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Das Paradies der Todgeweihten

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Programmzettel


Satirisches Nationaltheater Stupidediens
Sonntag 30. Juli 2013, 20 Uhr


Mixtli Zoanacochtzin

Das Paradies der Todgeweihten
Tragikkomödie in fünf Akten

Ignacio Mundí.............................................................................................. Antonio Banderas
Paz Mundí ........................................................................................................Salma Hayek
Señorita Ruiz ..................................................................................................Gina Lollobrigida
Pfarrer ........................................................................................................John Malkovich
Diogenes .......................................................................................................Pierce Brosnan
Figaro .........................................................................................................Simon Pegg
Persephone .....................................................................................................Sofía Vergara
Pandora ........................................................................................................Monica Bellucci
Dulcamara ......................................................................................................Johnny Depp
Mutter..........................................................................................................Selena Gomez
Frau 1..........................................................................................................Penélope Cruz
Frau 2..........................................................................................................Eva Mendes
Frau 3..........................................................................................................Christina Hendricks
Soldat 1........................................................................................................Charlie Sheen
Soldat 2........................................................................................................John Travolta
Soldat 3........................................................................................................Bruce Willis
Ort: Venezolanische Kleinstadt
Zeit: Gegenwart

Erster Akt

Erste Szene

(Badezimmer. Ignacio rasiert sich.)
(Paz auf)
Die ungeahnten Gefahren einer Nassrasur.

Ignacio: Verdammt, ich habe mich geschnitten. Warum müssen Rasierklingen auch so scharf sein?
Paz: Ist wirklich die Rasierklinge schuld oder bringt dich mein Körper so aus der Fassung, dass du gar nicht mehr auf die Rasierklinge achtest?
Ignacio: So kann man es auch sagen.
Paz: Wie meinst du das?
Ignacio: Glaub mir, du willst es nicht wissen.
Paz: Stell dich nicht blöd. Wenn ich es nicht hätte wissen wollen, hätte ich nicht gefragt. Raus mit der Sprache, ich warte auf die Wahrheit.
Ignacio: Die Wahrheit? Ich war wirklich entsetzt wie alt dein Körper geworden ist.
Paz: Nach einem Schnitt in die Wange willst du anscheinend nun auch einen Schnitt durch die Kehle.
Ignacio: Es war doch nur ein Scherz, meine Liebe. Ein harmloser Spaß. Für mich bist du immer noch so schön wie bei unserer Hochzeit.
Paz: Und das soll ich dir glauben? Ich soll diese miese Ausrede schlucken? Warum nimmst du dir nicht einfach eine Jüngere, wenn dir mein Körper zu alt ist?
Ignacio: Wie sollte ich mir eine Jüngere nehmen, wenn mein Herz dir und deinem wundervollen Körper gehört.
Paz: Ganz einfach, mach es so wie bei mir: Schwängere sie, sodass sie ihr Studium abbrechen muss und auf ewig an dich gebunden ist. Warum etwas Neues versuchen, wenn deine alte Methode so gut funktioniert hat? (kurze Pause.) Stimmt, tut mir Leid, ich habe vergessen, dass du es nicht magst, wenn etwas alt ist.
Ignacio: Fängst du wieder damit an?
Paz: Es tut mir Leid, wenn meine Anwesenheit dem werten Herren nicht so angenehm ist wie die seiner französischen Mädchen.
Ignacio: Französische Mädchen? Von welchen französischen Mädchen sprichst du, bei Gott?
Paz: Meinst du ich sehe sie nicht, die großgewachsenen Mädchen, mit ihren burschikosen T-Shirts und den langen, schwarzen Haaren?
Ignacio: Ich weiß nicht, wo von du sprichst. Meinst du vielleicht die drei Burschen, die immer wieder Computerteile in meinem Geschäft kaufen?
Paz: Mach dich ruhig über deine dumme Frau lustig.
Ignacio: Aber ich mache doch nichts.
Paz: Jetzt bin ich also wieder die Böse?
Ignacio: Äh (…), Das (…), Das (…)
Paz: Wer schweigt, stimmt zu. Ich bin also ein Problem für dich; nichts weiter als ein Klotz am Bein: Alt, hässlich und böse. Ich gebe dir meine Liebe. Koche, putze, bügle für dich und du dankst es mir so. Wie konnte ich bloß auf dich hereinfallen? Ich war so naiv.
Ignacio: Meine Liebste. Ich weiß zwar nicht, was ich getan habe und wie ich damit aufhören soll, aber bitte glaube mir, dass es mir von ganzem Herzen Leid tut und ich es zutiefst bereue, etwas gesagt zu haben – was auch immer das gewesen ist – das dich verletzt hat.
Paz: Wenn du so gut verkaufen wie reden könntest, wären wir längst reich.
Ignacio: Warum sagst du das? Der Laden läuft gut. Unsere Tochter studiert im Ausland. Wir haben ein Auto. Es geht uns gut.
Paz: Wirklich? Die Nachbarn machen dieses Jahr Urlaub in Italien, schauen sich Rom, Venedig, Florenz an und wir besuchen wie jedes Jahr diese kleine Pension am Strand, die gerade einmal zwei Autostunden entfernt ist.
Ignacio: Die Nachbarn haben halt auch nur einen Bastard von Hund, der sich gerne mitten in der Nacht die Einsamkeit von der Seele bellt, aber wenn du willst, können wir dieses Jahr gerne nach Mérida oder Maracaibo fahren, aber Italien ist einfach zu teuer. Außerdem gibt es die beste Pizza sowieso bei Alfredo und der ist gleich um die Ecke.
Paz: Du hast auch für alles eine Ausrede.
Ignacio: Was soll ich machen, meine Liebe? Ich kann Geld auch nicht aus dem Nichts herbeizaubern. Unser Leben mag ein einfaches sein, aber es ist auch ein gutes. Glück kann man nicht kaufen, und deshalb bist du für mich unbezahlbar, Paz.
Paz: Ich weiß, du meinst es wahrscheinlich nicht böse, aber ab und zu raubst du mir den letzten Nerv.
Ignacio: Paz, meine Liebste, warte.

(Paz ab)

Ignacio: Ich wollte zwar immer eine spontane, temperamentvolle Frau, aber dabei dachte ich mehr an spontanen Sex oder spontane Sandwiches und nicht an spontane Wutausbrüche.

(Kurze Pause)

Ignacio: Verdammt, jetzt habe ich mich wieder geschnitten. Wenn man Menschen auf den Mond schicken kann, kann man sicherlich auch ungefährliche Rasierklingen entwickeln. Warum macht das niemand?

Zweite Szene

(Ignacios Elektronikgeschäft. Ignacio sitzt hinter dem Tresen und liest ein Comicheft. Señorita Ruiz auf)

Ignacio: Señorita Ruiz, wie geht es Ihnen?
Señorita Ruiz: Sie haben einen köstlichen Sinn für Humor, Ignacio.
Ignacio: Wie meinen Sie das?
Señorita Ruiz: Ich bin 82 Jahre alt. Wenn ich einmal keine Schmerzen habe, bin ich tot.
Ignacio: Ich bitte Sie, Señorita Ruiz, Sie haben eine liebreizende Familie. Wie kann es Ihnen da schlecht gehen?
Señorita Ruiz: Fangen Sie erst gar nicht damit an. Gestern war mein unnützer Enkel bei mir und hat sich ausgeheult. Seine fette Freundin hat ihm zuerst vorgeworfen, dass ihr Übergewicht seine Schuld wäre, und als er dann erklärte, sie sei fett, weil sie so viel Fast Food in sich hineinstopfe, wurde er von ihr geschlagen. Trotzdem will er sich nicht von ihr trennen, denn es sei ja alles seine Schuld gewesen. Und dieser Trauminet ist auch noch mit mir verwandt.
Ignacio: Sehen Sie es nicht so eng, wir machen alle Fehler. Außerdem haben Sie noch zwei weitere Enkel, wenn ich mich recht erinnere.
Señorita Ruiz: Ein schwacher Trost. Der jüngste will die Schule hinschmeißen, um Schauspieler zu werden. Dabei hat dieser Luftikus das Talent einer Straßenlaterne und kann höchstens die Leiche in einem Krimi spielen. Aber wer braucht schon falsche Leichen, wenn man in Städten wie Caracas oder Maracaibo nur durch Armenviertel fahren und Mordopfer einsammeln muss?
Ignacio: Was ist so schlimm daran? Wir hatten alle unsere Jugendträume und waren letztendlich vernünftig genug zu erkennen, wann man träumen, und wann man leben soll. Ihr Enkel ist jung, lassen Sie ihm den Glauben an die Utopie, bevor er nicht mehr dazu in der Lage ist!
Señorita Ruiz: Sie haben schon Recht. Er ist halt wie alle Jugendlichen heutzutage ein träumerischer Windbeutel. Aber irgendwann wird er hoffentlich zur Vernunft kommen. Außerdem tut er als Schauspieler niemandem weh. Im Gegensatz zu meinem ältesten Enkel, der die ganze Zeit mit roten Hemden herumläuft und vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts faselt. Mein eigener Enkel ist einer von diesen Trotteln, die glauben, man könnte von Ideologien und Parteimanifesten leben, einer von diesen Simpeln, die anscheinend noch nie etwas von der Sowjetunion gehört haben. Alles eine Bagage von faulen Schmarotzern.
Ignacio: Sicherlich schießt man über das Ziel hinaus und etwas mehr Realismus könnte der PSUV gut tun, aber was ist so schlimm daran, wenn jeder krankenversichert ist und notfalls durch den Staat unterstützt wird. Meiner Meinung nach sollte niemand aufgrund seiner Herkunft leiden müssen.
Señorita Ruiz: Sind Sie auch eines dieser Kommunistenschweine, die am liebsten ihre eigene Mutter verstaatlichen würden, um sie dann dem proletarischen Pöbel zu schenken? Wer nicht mehr arm sein möchte, soll einfach arbeiten. Früher haben wir zwar unsere eigenen Diktatoren gewählt, die sich dafür aber aus dem täglichen Leben herausgehalten und den Fleißigen ihr Geld gelassen haben. Doch heutzutage stopfen die Politikerschweine der Schmarotzerbagage alles Mögliche in den Rachen und verraten unser Land wegen einer schwachsinnigen Ideologie.
Ignacio: Wenn ich mich recht erinnere, haben diese Diktatoren die kritische Stimme des Volkes durch Gewehrschüsse übertönt, unser Öl für ein Almosen ohne großen Nutzen an die USA verkauft und unser Land für eine Handvoll Dollar verraten. Aber ich verstehe nicht viel von Politik. Daher bin ich auch kein Politiker, sondern verkaufe Elektronikartikel. Und ich bin mir sicher, dass Sie gekommen sind, um ein paar davon zu kaufen. Also wie kann ich Ihnen helfen?
Señorita Ruiz: Ich brauche Batterien.
Ignacio: Welche Größe?
Señorita Ruiz: Alle.
Ignacio: Wie bitte?
Señorita Ruiz: Alle.
Ignacio: Welche Größe?
Señorita Ruiz: Alle Batterien in allen Größen und einen Dieselgenerator.
Ignacio: Alle Batterien?
Señorita Ruiz: Und einen Dieselgenerator.
Ignacio: Einen Dieselgenerator noch dazu? So etwas habe ich gar nicht im Sortiment.
Señorita Ruiz: Dann nur alle Batterien in allen Größen. Die werden Sie ja noch da haben. Hinter Ihnen sehe ich sogar ein paar Batterien.
Ignacio: Natürlich habe ich Batterien, aber ich müsste im Lager nachschauen, wie viele es genau sind. Aber was in Herrgotts Namen machen Sie mit so vielen Batterien?
Señorita Ruiz: Haben Sie heute noch nicht die Zeitung gelesen?
Ignacio: Ich war heute am Morgen so gut gelaunt und das wollte ich mir nicht durch Zeitunglesen verderben.
Señorita Ruiz: Die Experten sagen, dass der Ausbruch nur eine Frage der Zeit ist.
Ignacio: Für mich ist die ganze Vulkan-Sache nur Panikmache. Ich habe drei Semester Elektrotechnik in Caracas studiert und sage Ihnen, bevor etwas explodiert, gibt es deutliche Anzeichen. Daher warte ich bis der Berg glühende Lava spuckt und lasse mich dann vom Militär retten.
Señorita Ruiz: Sie können Ihr Leben gerne der Regierung anvertrauen, die es nicht einmal schafft, eine stabile Stromversorgung zu garantieren, aber ich treffe Vorbereitungen, um nicht von einer Bande Rothemden abzuhängen.
Ignacio: Also alle Batterien, die ich habe?
Señorita Ruiz: Genau, und dieses Kabel.
Ignacio: Das ist ein USB-Kabel. Ich glaube nicht, dass es beim Überleben wirklich von Nutzen ist. Es sei denn, Sie erwürgen damit einen Leguan.
Señorita Ruiz: Wirklich? Ich dachte, es sei ein stromsparendes Kabel. Darüber liest man immer wieder in der Zeitung. Haben Sie denn eines dieser stromsparenden Kabel im Sortiment?
Ignacio: Señorita Ruiz, wenn ich Ihnen einen Rat geben darf; sparen Sie sich das Geld und machen Sie solange Urlaub im Ausland, bis die Sache vorbei ist. Das ist billiger als alle Batterien aufzukaufen.
Señorita Ruiz: Meinen Sie wirklich?

(Pfarrer auf)

Ignacio: Guten Morgen, Herr Pfarrer.
Pfarrer: Grüß Gott, Señor Mundí. Señorita Ruiz.
Señorita Ruiz: Morgen, Herr Pfarrer. Sie haben doch einen Draht nach oben? Was hat es mit diesem angeblich bevorstehenden Vulkanausbruch auf sich? Sicherlich ist es die Strafe Gottes für die liederlichen Sozialisten, die unser Land in den Dreck reiten. Ich sage Ihnen, ich habe gewusst, dass das passieren wird, aber es kann nicht sein, dass rechtschaffende Leute wie wir deshalb leiden müssen. Wo ist die Gnade Gottes in diesem Fall?
Pfarrer: Ich bin nur ein einfacher Priester. Gott hat mir nicht die Gabe geschenkt, seine Wege zu verstehen, aber in seiner unendlichen Güte gab er mir meinen Glauben und das Vertrauten, dass er nur das Beste für uns will.
Señorita Ruiz: Was war auch anderes zu erwarten, als dass Sie inhaltsleeren Blödsinn von sich geben?! Wenn Sie Gott nicht kritisieren möchten, ist das in Ordnung, aber sagen Sie dem Herrn, dass er mich noch einige Jahrzehnte leben lassen soll, wenn er keinen Ärger im Himmel haben will. Señor Mundí, danke für Ihre Hilfe, ich werde mich im Reisebüro informieren.

(Señorita Ruiz ab)

Ignacio: Sie ist wirklich ein Unikum.
Pfarrer: Da haben Sie Recht. Wie lange ist ihr Mann schon tot?
Ignacio: Schon seit über fünfundzwanzig Jahren.
Pfarrer: Hat er sich aus dem Fenster geworfen?
Ignacio: Ich weiß, dass dieser Gedanke zwar nahe liegt, aber nein, es war ein Herzinfarkt, wenn ich richtig informiert bin. Falls es Sie tröstet, Herr Pfarrer, ich hätte mich schon längst aus dem Fenster gestürzt, wenn ich Señorita Ruiz geheiratet hätte.
Pfarrer: Aber genug davon, denn es steht mir nicht zu, zu richten. Das ist die Aufgabe unseres Herren. Außerdem bin ich ja aus anderen Gründen gekommen.
Ignacio: Also, was kann ich für Sie tun?
Pfarrer: Ich brauche Glühbirnen.
Ignacio: Wie viele?
Pfarrer: Alle.
Ignacio: Alle?
Pfarrer: Ich hoffe, das ist kein Problem.
Ignacio: Nein, es ist kein Problem. Aber warum ihn aller Welt wollen Sie alle Glühbirnen kaufen, die ich im Laden habe?
Pfarrer: Haben Sie heute noch nicht die Zeitung gelesen?
Ignacio: Nein, aber ich nehme an, dass es um den Vulkanausbruch geht.
Pfarrer: Woher wissen Sie das?
Ignacio: Ich hatte so ein Gefühl.
Pfarrer: Beeindruckend, wirklich beeindruckend. Dann wissen Sie auch, dass es bald ernst werden soll. Daher auch die Glühbirnen.
Ignacio: Möchten Sie auch Batterien?
Pfarrer: Nein danke. Was mache ich denn mit Batterien?
Ignacio: Das war nur so eine Idee. Aber was mich interessiert: Ist Gott in Krisenzeiten etwa nicht mehr hell genug?
Pfarrer (lacht.): Ein netter Scherz, aber natürlich ist Gott mehr als bloß eine riesige Glühbirne. Der Theosoph Pseudo-Dionysius Areopagita sprach in diesem Zusammenhang von der göttlichen Dunkelheit, weil Gottes Glanz zu stark für unsere Augen ist.
Ignacio: Ich weiß nicht, Herr Pfarrer, ob meine irdischen Glühbirnen, auch wenn Sie alle kaufen, ausreichen, um die göttliche Dunkelheit zu vertreiben.
Pfarrer: Es reicht, wenn Ihre irdischen Glühbirnen die irdische Dunkelheit vertreiben. Für alles andere, habe ich meinen Glauben.
Ignacio: Ich weiß nicht einmal, ob die das schaffen, wenn aufgrund des Vulkanausbruchs kein Strom mehr aus der Steckdose kommt.
Pfarrer: Darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen, die Unfähigkeit der Regierung, für die Stabilität des Stromnetzes zu sorgen, hat dazu geführt, dass es im Pfarrhaus einen Dieselgenerator gibt.
Ignacio: Das heißt, Sie wollen ihm Falle eine Ausbruch nicht die Stadt verlassen?
Pfarrer: In der Not brauchen die Menschen Gott am meisten.
Ignacio: Dann passen Sie auf sich auf.
Pfarrer: Gott passt auf mich auf. Das ist alles, was ich brauche. Trotzdem würde ich mich sehr über die Glühbirnen freuen.
Ignacio: Verzeihung, das ist mir entglitten. Die Glühbirnen sind dort hinten.

Dritte Szene

(Straße vor Ignacios Haus. Diogenes sitzt am Straßenrand und isst Schokoladenpudding. Er trägt einen blauen Barockmantel, ein rotes Hawaiihemd und eine braune Leinenhose. Frau 1, Frau 2 und Frau 3 betreten etwas abseits die Bühne.)
Bühnenbildskizze: Straße vor Ignacios Haus

Frau 3: Ich muss mit dem Trinken aufhören. Normalerweise ist es ja immer spaßig, aber gestern habe ich eine Linie überschritten. Um meinen morgendlichen Kater zu vertreiben, habe ich mir einen Wodka-Redbull gemacht und als der nicht geholfen hat, noch einen zweiten und vielleicht auch noch einen dritten. Das weiß ich nicht mehr genau. Auf jeden Fall verträgt sich der Wodka anscheinend nicht mit den scheiß Pillen, die ich gegen die Übelkeit nehme und das nächste woran ich mich erinnern kann ist, dass ich in der Badewanne von einem Freund aufgewacht bin.
Frau 1: Ich weiß nicht, ob es liebevoll oder gruselig ist, dass er dich gewaschen hat. Ist er heiß?
Frau 3: Wenn er mich wenigstens gewaschen hätte, aber nein. Anscheinend bin ich mitten am Tag betrunken und im Pyjama aus dem Haus getorkelt, ins nächstbeste Taxi eingestiegen und zu einem Zigarrenladen gefahren, wo ich dann darauf bestanden habe, Napoleon sprechen zu müssen und daraufhin besagten Freund anrief, um ihn über die stattfindende Alieninvasion zu informieren. Er hat mich dann abgeholt und in die Badewanne gelegt, damit ich nicht alles versaue, wenn ich kotzen muss. Ich sage euch, das war zu viel. Ich habe einfach eine Linie überschritten, die man am besten nicht überschreitet. Kein Alkohol mehr.
Frau 1: Das glaubst du doch selbst nicht. Spätestens am Wochenende bist du wieder betrunken.
Frau 2: Es wäre nicht schlecht, wenn du mit dem Trinken aufhören würdest. Gestern Nacht kam mein Mann blau wie ein Schlumpf nach Hause und begann einfach ins Katzenklo zu pinkeln. Als ich ihn darauf angesprochen habe, schrie er mich an und erklärte, ich solle ihn in Ruhe pinkeln lassen. Glaub mir, du tust der Welt einen Gefallen, wenn du aufhörst so zu tun, als wärst du ein Rumfass.
Frau 3: Ich bin nicht Gandhi. Es reicht, wenn ich mir selbst damit einen Gefallen tue, und nicht mehr im Pyjama in irgendwelchen Zigarrenläden Alienverschwörungen aufdecke. Ist das dort hinten nicht der verrückte Diogenes?
Frau 1: Wer sonst? Ein Spinner in der Stadt reicht.
Frau 2: Hey Diogenes, ich habe gehört die Müllabfuhr hat dich mitgenommen und dann aufs Feld geschmissen, als sie gemerkt haben, dass du noch lebst.
Diogenes: Kommt nur herbei, ihr schönen Frauen.

(Frau 1, Frau 2 und Frau 3 gehen zu Diogenes. Diogenes bewirft sie mit Pudding.)

Diogenes: Wollt ihr mich verarschen? Ich sagte schöne Frauen, keine Vogelscheuchen. Seht euch an. Eure Finger sind verunstaltet durch künstliche Fingernägel, das Gesicht erstickt unter der Schminke und der Weingeist eurer Parfums sticht in meiner Nase. Ihr seid nicht mehr als billige Puppen, angemalte Vogelscheuchen, Karikaturen der Schönheit, so natürlich wie ein Plastiksackerl, aber bei weitem nicht so hübsch.
Frau 2: Was ist dein Problem, du Hurensohn? Schau dich an, du isst mit deinen Händen, wie ein Hund.
Diogenes: Seid ihr nicht viel mehr die Hunde, weil ihr um mich herumsteht und mir zuseht, während ich esse?
Frau 1: Nein, Klugscheißer. Du bist der Hund, weil du auf den Rasen anderer Leute scheißt und es dir nicht einmal peinlich ist. Das ist so widerlich, selbst einem Müllmann würde von deinem Anblick schlecht werden.
Diogenes: Ich schäme mich nicht für die Scheiße, die aus meinem Arsch kommt, denn es liegt in der Natur des Menschen aus dem Arsch zu scheißen, aber bei euch kommt die Scheiße auch aus dem Mund und das ist abnormal.
Frau 2: Dein Vater war wohl ein Hofnarr, weil du nämlich so ein Witz bist.
Diogenes: Im Gegensatz zu deiner Mutter hat es meine Mutter mir leicht gemacht zu sagen, wer mein Vater ist.
Frau 2: Du solltest mal wieder aufs Klo gehen, denn die Scheiße steht dir bis ins Hirn. Und wenn du so ein Klugscheißer bist, kannst du mir sicherlich sagen, was dein Vater so schlimmes getan hat, um so einen Versager wie dich zu bekommen.
Diogenes: Es sei nur so viel gesagt: Meine Mutter ist die Natur und mein Vater der Verstand. Zu ihrer Ehr scheiß ich aus dem Arsch und zu seiner red ich mit dem Mund. Ihr aber kennt anscheinend eure Eltern nicht, denn ihr wollt nicht mit dem Arsch scheißen und scheißt daher mit dem Mund.
Frau 3: Es kann noch so viel Scheiße aus mir raus kommen, ich kann immer noch aufs Klo gehen, denn ich habe ein eigenes Haus. Doch du hast nichts, nicht einmal einen Karton, in dem du dich verkriechen kannst. Wenn du so schlau wärst, wie du tust, würdest du auch etwas besitzen.
Diogenes: Sieh dich um, die ganze Welt ist mein Zuhause, denn ich bin ein freier Mann.
Frau 2: Das ist der größte Blödsinn, den ich je gehört habe.
Frau 1: Genau. Nur weil du obdachlos bist, heißt das noch lange nicht, dass dir die Welt gehört. Im Gegenteil, du bist ein abgebrannter Penner, der sich nicht einmal vernünftige Kleidung leisten kann, während wir in unseren weichen Betten aufwachen, in unseren Küchen essen und vor unseren Fernsehern sitzen können.

(Ignacio auf)

Diogenes: Macht euch nur zum Sklaven eurer Lüste; ärgert euch darüber, nur Brot zu essen, anstatt sich über den vollen Magen zu freuen; starrt in eure Fernseher, anstatt in den Garten zu blicken, doch diese Kultur, auf die die Menschheit so stolz ist, ist nur Lug und Trug. Wenn der Vulkan ausbricht, werdet ihr auch nicht Zigarren rauchend im Liegestuhl sitzen und zur Musik Mozarts auf den Tod warten.
Frau 1: Das stimmt, denn wir können alle rechtzeitig flüchten. Aber niemand wird sich um einen Verrückten scheren, der offiziell nicht einmal existiert. Wir werden sehen, ob du auch noch so stolz bist, wenn du um deine Rettung flehst.
Diogenes: Ihr flüchtet nicht aus Angst vor dem Tod, sondern aus Angst vor euren Begierden und Bequemlichkeiten, deren Knechte ihr seid. Wer mit stolzgeschwellter Brust aus dem Arsch scheißen kann, muss nicht flüchten, denn er ist ein freier Mann.
Ignacio: Ich bin mir sicher, dass du derartige Tätigkeiten mit stolzgeschwellter Brust auch an anderen Orten abwickeln kannst. Ich werde nämlich darauf achten, dass du nicht zurückbleibst. Die Welt ist voller Leute, die mehr an ihrem Fernseher als an ihrem Leben hängen. Ein paar nette Worte und etwas Kleingeld und schon gehört deren Platz dir. Was wäre eine Welt ohne Diogenes?
Frau 2: Wenn Sie sich so um Ihren Freund sorgen, Señor Mundí, sollten Sie ihm vielleicht ein paar Manieren beibringen. Damit ist ihm mehr geholfen.
Frau 1: Am besten lassen Sie ihn einfach hier.
Frau 3: Du sagst es. (Zu Frau 2:) Dein Mann hat einfach ins Schlafzimmer gepinkelt?
Frau 2: Unglaublich, ich weiß! Er macht immer eigenartige Sachen, wenn er nachhause kommt, aber im Normalfall ist es ihm peinlich. So wie damals, als er den Schwamm gegessen hat, weil er glaubte, es sei ein Stück Käse.

(Frau 1, Frau 2, Frau 3 ab)

Ignacio: Es wundert mich, dass dich noch niemand umgebracht hat.
Diogenes: Ich lebe, weil mich die Leute für verrückt halten und man Verrückte als Menschen zweiter Klasse sieht. Es ist wie mit Alten und Kindern. Sie werden nicht bestraft, nicht mit Verantwortung bedacht und wenn man sie wegsperrt, dann ist es auch nur zu ihrem Besten.
Ignacio: Genau deshalb halten dich manche für einen unlustigen Zeitgenossen.
Diogenes: Es ist mir egal, was diese Drecksschlampen über mich denken. Ich führe ein naturgemäßes Leben und richte mich nicht nach der Meinung irgendwelcher verblendeter Idioten.
Ignacio: Mein Fehler, die meisten Leute mögen dich nicht, weil du sie regelmäßig beleidigst.
Diogenes: Wenn ich ohne Löffel meinen Pudding essen kann, so ist es das Leichteste der Welt für mich auf die Freundschaft dieser konsumgeilen Idioten, die lieber größere Fernseher als größere Hirne hätten, zu verzichten.
Ignacio: Diogenes, du kannst nicht einfach Leute beleidigen. So werden sie dich nie mögen.
Diogenes: Ich habe es dir schon oft genug gesagt: Diogenes ist ein freier Mann, er kann tun, was er will. Wenn ihre Ablehnung der Lohn für meine Genügsamkeit ist, so gibt es niemanden in der Geschichte der Menschheit, der jemals ein größeres Salär erhalten hat als ich. Nein, diese großartige Gratifikation wäre die Gleichgültigkeit dieser verblendeten Vollfposten, aber ihre Verachtung ist immerhin besser als eine Faust im Arsch.
Ignacio: Das klingt nicht sehr angenehm, weder für die Faust, noch den, in dem sie drinnen steckt.
Diogenes: Das ist Leben. Entweder nimmst du dich zusammen, lebst ein naturgemäßes Leben und wirst glücklich oder du hast die Faust der Zivilisation im Arsch. Weißt du, Ignacio, Menschen haben es perfektioniert, sich selbst zu knechten. Entweder werden sie zum Knecht ihrer Lüste oder sie werden zum Knecht ihres Geistes und glauben, dass scheißen, pissen, wichsen ihrer nicht mehr würdig wäre. Und du, mein Freund, bist geknechtet durch den Drachen, der in deinem Haus lebt.
Ignacio: Würdest du jemanden lieben, würdest du anders denken.
Diogenes: Wozu brauche ich Liebe, wenn ich mir einfach einen runterholen kann?
Ignacio: Siehst du, das habe ich gemeint. Ich brauche kein großes Haus, keinen teuren Fernseher, keine elegante Kleidung, um glücklich zu sein, aber ohne Paz könnte ich nicht leben, ohne Liebe wäre mein Leben sinnlos.
Diogenes: Scheint so, als hättest du Liebe im Arsch und das ist fast so schlimm wie ein Haufen Spulwürmer.
Ignacio: Möchtest du wirklich nicht mitkommen, falls die Stadt evakuiert werden müsste?
Diogenes: In der Natur bin ich freier als in der Stadt. Weshalb sollte ich mitkommen?
Ignacio: Der Vulkan wird sowieso nicht ausbrechen. Du kennst diese Fachidioten; die machen sich wichtig, auch wenn es keinen Grund dazu gibt. Der Vulkan raucht nicht, also wird er auch nicht ausbrechen, Holz brennt ja auch nicht ohne Rauch.
Diogenes: Dafür kenne ich etwas anderes, das ausbrechen wird.
Ignacio: Wie meinst du das?
Diogenes: Du bist spät dran.
Ignacio: Stimmt, aber Paz nimmt das nicht so genau. Immerhin habe ich ja gearbeitet.
Diogenes: Du bist so blind, dir muss die Liebe wirklich aus dem Arsch kommen.

(Ignacio ab)

Vierte Szene

(Wohnzimmer. Ignacio auf)

Paz: Wo warst du? Warst du wieder bei deinen französischen Mädchen? Hattest du Spaß? Habt ihr über mich gespottet, während ihr Champagner getrunken und Nonchalance gegessen habt oder hast du einfach nur deinen Kopf an ihre Brust gelegt und ihnen gesagt, wie du sie liebst, genauso wie du es bei mir macht?
Ignacio: Ich glaube, du weißt nicht genau, was Nonchalance bedeutet.
Paz: Unterbrich mich nicht, wenn ich rede.
Ignacio: Tut mir leid, ich dachte, dass du-
Paz: Ta, ta, ta, ta, ta, ta, ta. Ich rede jetzt. Du bist nicht bei deinen französischen Mädchen, die dir deine Lügen glauben, die in deine liebevollen Augen schauen und nicht wissen, dass du das Herz einer jetzt alten Frau geraubt und zerbrochen hast.
Ignacio: Hast du getrunken?

Französisches Mädchen (Symbolfoto)

Paz: Natürlich habe ich getrunken, denn der Alkohol ist das Einzige, das meinen Kummer tröstet. Du bist ja nicht zuhause, sondern arbeitest in deinem kleinen Elektronikgeschäft und wenn du fertig bist, stiehlst du dich zu deinen französischen Flittchen, trinkst Chianti und fütterst diese Schlampen mit leckeren Horsd’œuvre.
Ignacio: Meine Liebste, es gibt keine französischen Mädchen. Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Es gibt nur dich, dich und unsere Tochter.
Paz: Du lügst mir ins Gesicht. Warum bist du so grausam? Du stehst hier vor mir und sagst, dass du keine Fräuleins kennst? Und das, nachdem du diese Froschschenkelfresserinnen erst vor kurzem gefickt hast. Und jetzt zwingst du mich auch noch, diese grausame Wahrheit mit meinen Lippen zu formen. Du hast mir meine Jugend genommen, meine Träume geraubt und jetzt willst du auch noch meinen Stolz.
Ignacio: Paz, das, was du sagst, ergibt keinen Sinn. Ich kenne wirklich keine französischen Mädchen. Ich kenne nicht einmal französische Kerle. Woher auch? Die einzigen Europäer, die zu uns kommen, sind Hippies, die glauben, nur weil Venezuela kein OECD-Mitglied ist, könne man hier Drogen ganz legal konsumieren. Auch habe ich deine Jugend nicht gestohlen, niemand hat deine Jugend gestohlen, denn du bist schön wie am Tag als ich dich kennenlernte. Die einzige Diebin bist du, denn du hast mein Herz gestohlen.
Paz: Spar dir das Süßholzgerasple, ich falle nicht mehr darauf rein. Wenn du so unschuldig bist, wie du tust, kannst du mir sicherlich sagen, warum du heute später gekommen bist.
Ignacio: Im Laden war viel los, die Leute machen sich Sorgen wegen des Vulkans.
Paz: Der Vulkan also?
Ignacio: Nicht direkt der Vulkan.
Paz: Also doch nicht der Vulkan.
Ignacio: Irgendwie schon. Hast du heute die Zeitung gelesen?
Paz: Nein, habe ich nicht. Du kaufst ja keine Zeitung, weil die Politik deine gute Laune ruiniert. Hast du etwa eine Anzeige aufgegeben, um ein Alibi zu vorweisen zu können? Das wäre ziemlich bescheuert, denn dann... Ich hab vergessen, was ich sagen wollte, aber ich weiß, dass es etwas mit den froschschenkelfressenden Flittchen zu tun hatte. Ich reiße ihnen den Kopf ab, wenn ich sie sehe. Das war es aber, glaube ich, nicht.
Ignacio: Auf jeden Fall stand heute in der Zeitung, dass der Vulkan bald ausbrechen soll, weshalb die Leute meinen Laden gestürmt und alles Mögliche gekauft haben. Der Pfarrer hat sich sogar alle Glühbirnen unter den Nagel gerissen; ist wohl nicht sehr überzeugt von Gottes Segen.
Paz: Der Vulkan soll bald ausbrechen und deshalb war viel los im Laden.
Ignacio: So ist es.
Paz: Die Leute bereiten sich auf den Ausbruch vor und kaufen deshalb viel ein.
Ignacio: Genau.
Paz: Und was sind deine Vorbereitungen?
Ignacio: Wie bitte?
Paz: Bist du so dumm oder tust du nur so? Was sind deine Vorbereitungen? Hast du – keine Ahnung – das gemacht, was man machen muss, wenn man sich vorbereitet? Du weißt schon, was ich meine. Schafe und Tiger kaufen und so. Halt was man macht, wenn man Vorbereitungen trifft.
Ignacio: Warum sollte ich einen Tiger kaufen?
Paz: Ein Tiger in der Mühle.
Ignacio: Ja. Was ist mit diesem Tiger?
Paz: Ich hab es vergessen. Nein, warte. Andersrum ist es richtig. Eine Mühle im Tiger frisst den Arzt des Apfels. Eine Mühle im Tiger, wer denkt sich so einen Schwachsinn aus. Ich meine, es ist eine Mühle im Tiger.
Ignacio: Du bist betrunken. Du solltest dich hinlegen und den Rausch ausschlafen.
Paz: Das würde dir so passen, wenn du mich so einfach zum Schweigen bringen könntest. Hast du also Vorbereitungen getroffen?
Ignacio: Nein, habe ich nicht. Wozu auch, wenn die Stadt im Ernstfall evakuiert wird.

Paz (links) und Ignacio (rechts). Ein Bild aus besseren Zeiten

Paz: Du vertraust mein Leben also irgendwelchen Idioten an und glaubst, dass das funktionieren wird. Glaubst du, unsere Armee wird uns retten? Das Einzige, das dieser Sauhaufen kann, ist, ehrlich gewählte Regierungen stürzen und mit kommunistischen Rebellen kooperieren. Solange der Vulkan nicht in die Nationalversammlung einzieht und vorhat, die Befugnisse des Militärs zu beschneiden, hat er von unserer Armee nichts zu befürchten und die Regierung vom kommunistischen Kasperl, wird so reagieren wie immer, nämlich nichts tun und dem kapitalistischen System die Schuld geben.
Ignacio: Du machst dir zu viele Sorgen. Das Militär wird kommen und uns mitnehmen. Das sollten sie schon schaffen.
Paz: Und was ist mit unserer Tochter? Denkst du gar nicht an sie? Ist sie dir vollkommen egal?
Ignacio: Pamina studiert in Wien. Das ist tausende Kilometer weit weg. Ihre größte Sorge wird sein, dass uns etwas zustoßen könnte.
Paz: Es sind Ferien. Sie ist also nicht in Wien, sondern macht mit ein paar Freundinnen Urlaub in Zell am See.
Ignacio: Das liegt auch noch in Österreich und damit immer noch tausende Kilometer entfernt von hier. Was erwartest du von mir? Soll ich nach Österreich reisen und unsere Tochter hier her in die Gefahrenzone bringen oder soll ich vielleicht in einer Stadt, die ich nicht kenne, irgendwelche Maßnahmen treffen, für einen Vulkanausbruch, der tausende Kilometer entfernt stattfindet.
Paz: Aber unser kleines Baby
Ignacio: Ist erwachsen. Wir haben sie gut erzogen, sie wird das schon schaffen.
Paz: Aber der Vulkan-
Ignacio: Die ganze Zeit wird über diesen Vulkan gesprochen. Die Leute stürmen meinen Laden, Diogenes will hier bleiben und nun machst du mir Vorwürfe. Lasst mich einfach in Ruhe mit diesem scheiß Vulkan. Das Ding wird sowieso nicht ausbrechen, nur weil sich ein paar Vulkanologen wichtigmachen, trotzdem bricht Panik aus. Das ist so, als würde man die Zeugen Jehovas ernst nehmen, wenn sie vom Weltuntergang reden. Warum können die Leute nicht einfach normal weiterleben. Der Vulkan ist nun einmal da, ob wir das wollen oder nicht. Nun müssen wir uns damit arrangieren und das tun wir am besten, indem wir so leben wie bisher. Ich habe keine Angst vor dem Vulkan, sondern würdige ihn keines Blickes.
Paz: Glaubst du das wirklich? Sprichst du die Wahrheit?
Ignacio: Ja, meine Liebste, das tue ich. Das tue ich von ganzem Herzen. Du weißt, ich würde das Unmögliche schaffen, wenn ich dich oder Pamina retten müsste, aber diesmal wird wohl das Militär reichen.
Paz: Aber Pamina, unsere süße, kleine Paminita. Sie ist doch noch ein Kind.
Ignacio: Sie ist 20 Jahre alt.
Paz: Für mich wird sie immer fünf Jahre alt sein und mit ihrem Stoffhasen durch die Gegend laufen.
Ignacio: Sie wollte ihn nie hergeben.
Paz: Jetzt hat sie ihn sogar mit nach Wien genommen. Ich vermisse meine Paminita, Ignacio. Sie fehlt mir.
Ignacio: Sie fehlt mir auch meine Liebste, aber sie wollte nun einmal nach Europa.
Paz: Du hast leicht reden. Du hast dein kleines Geschäft, um das du dich kümmern musst, aber mein Lebensinhalt ist entschwunden. Meine kleine Paminita fehlt mir so sehr. Es kommt mir so vor, als hätte ich sie erst gestern zum ersten Mal im Arm gehalten.
Ignacio: Ich weiß, es ist ein schwacher Trost, aber morgen in der Früh kannst du sie anrufen, aber jetzt schläft sie vermutlich schon und wir wollen sie ja nicht stören. Immerhin soll sie sich in den Ferien erholen.
Paz: Ich weiß noch, als ich das erste Mal angerufen habe. Ganz verschlafen hat sie abgehoben, denn bei ihr war es schon fast nach Mitternacht und sie hat sich furchtbar darüber aufgeregt, dass ich ihr den Schlaf raube, sobald sie wach genug wahr, um zu begreifen, wer anruft, aber ich war einfach nur glücklich ihre Stimme zu hören. Was würde ich dafür geben, sie jetzt in meinen Händen halten zu können.

(Paz beginnt zu weinen.)

Ignacio: Beruhige dich, ihr geht es sicherlich gut. Sie ist eine Frohnatur. Du wirst sehen, wenn sie morgen abhebt, wird sie wieder von den österreichischen Mehlspeisen schwärmen, als gäbe es keine wichtigeren Dinge auf dieser Welt.
Paz: Ich bin furchtbar. Pamina fehlt mir und du musst darunter leiden. Jeder andere hätte mich schon längst in den Wind geschossen. Aber du sitzt einfach nur da und ertränkst deinen Kummer in Alkohol.
Ignacio: Das leere Weinglas ist deines, deshalb bist du auch betrunken.
Paz: Stimmt. Manchmal bin ich wirklich vergesslich. Danke, dass du bei mir bleibst, auch wenn ich manchmal etwas anstrengend bin.
Ignacio: Es liebt dich einfach niemand so wie ich, meine Liebste.

Zweiter Akt

Erste Szene

(Friseursalon. Figaro eilt nervös durch den Raum. Er dreht das Radio auf. Die Ouvertüre der Oper „La nozze di Figaro“ ist zu hören. Figaro eilt weiter und dreht die Musik nach kurzer Zeit wieder ab.)
Bühnenbildskizze: Figaros Friseursalon

Figaro: Nein, das hilft nicht. Die Musik macht alles nur noch schlimmer. Wer soll sich bei diesem Lärm beruhigen? (Summt die Melodie.) Na toll! Jetzt habe ich die Melodie im Kopf. Was für eine Katastrophe! Ich brauche Lösungen, keine Noten. Soll ich den Plünderern etwas vorsingen, wenn sie mich niederknüppeln? Sehr hilfreich! Bei meiner Stimme schlagen die noch umso fester zu.

(Figaro hetzt durch den Salon, zeigt auf die Zeitung.)

Figaro: Du bist schuld daran. Warum lese ich überhaupt Zeitung? Hätte ich die Finger von diesem vermaledeiten Stück Papier gelassen, würde das Unglück einen Seligen treffen.

(Ignacio auf)

Ignacio: Morgen, Figaro.
Figaro: Was ist passiert?
Ignacio: Wovon sprichst du?
Figaro: Irgendetwas ist passiert, sonst wärst du nicht hier. Was ist also passiert. Ich weiß zwar nicht, was es ist, aber ich habe es schon immer geahnt. Dieses Land ist zu gefährlich. Irgendwas ist passiert. Du bist da.
Ignacio: Ja, ich bin da und zwar in deinem Friseurgeschäft.
Figaro: Herrgott nochmal, ich weiß, dass du da bist. Aber warum? Das Warum will mir nicht in den Schädel? Hast du kein Schutzgeld gezahlt und die Banditen haben daraufhin deinen Laden angezündet? Nein, sonst wärst du nicht so glücklich. Warte, du hast in der Lotterie gewonnen. Du hast das große Los gezogen? Nein, das kann nicht sein. Für dich ist das Unsinn. Du siehst in Glückspiel keinen Sinn. Ich hab’s. Jetzt habe ich es. Ach Figaro, manchmal hast du wirklich ein Brett vorm Kopf. Es geht um den Vulkan. Natürlich geht es um den Vulkan. Seit Wochen geht es um nichts anderes: Er bricht aus. Stimmt’s? Aber warum in aller Welt hast du dann gelächelt? Wahnsinn. Ist das vielleicht-
Ignacio: Figaro, komm runter. Entspann dich. Es ist nichts passiert. Ich stehe hier – in deinem Friseursalon – um – und warte, jetzt kommt es – mir die Haare schneiden zu lassen.
Figaro: Aber dein letzter Haarschnitt ist erst drei Wochen her.
Ignacio: Nun gut, ich war nicht ganz ehrlich. Ich brauche auch noch eine Rasur. Das wollte zuhause nicht so recht klappen.
Figaro: Was?
Ignacio: Ich brauche eine Rasur
Figaro: Eine Rasur?
Ignacio: Genau, eine Rasur und zwar von dir.
Figaro: Von mir?
Ignacio: Selbstverständlich, denn du bist Barbier.
Figaro: Ich? Ein Barbier?
Ignacio: Bei Gott Figaro, was ist in dich gefahren?
Figaro: Wie stellst du dir das vor? Du kommst einfach in meinen Laden und willst eine Rasur.
Ignacio: Und einen Haarschnitt.
Figaro: Aber woher soll ich das wissen?
Ignacio: Das hier ist dein Friseursalon.
Figaro: Hast du in der letzten Zeit Zeitung gelesen?
Ignacio: Nein, aber anscheinend hat es jeder andere getan.
Figaro: Du seliger; du blinder, naiver Glückspilz. Ich sehe die Welt mit anderen Augen, weil ich Zeitung lese. Was durch sie aufgedeckt wurde, lässt sich nur schwer aus dem Kopf verbannen. Erdrutsch in den Anden, Bandenschießerei in Caracas, korrupte Stadtverwaltung in Cumana. Soviel Gewalt, so viel Leid und nun hat sich auch noch die Natur gegen uns gewandt. Schon die Kriminalität war ein Problem, dann kamen die verdammten Sozialisten und nun haben wir auch den Vulkan. Dabei ist der Vulkan der einzig wahre Sozialist im Land, denn er wird uns alle töten, egal ob arm oder reich, Mann oder Frau. In dieser Welt, in der so viel Leid passieren kann, kommst du eine Woche früher als sonst in meinen Friseursalon und erwartest wirklich, dass ich von Beginn an so naiv bin und wirklich glaube, dass du nur einen Haarschnitt willst.
Ignacio: Figaro, Figaro. Ich verstehe es noch, dass du dich nicht mit Frauen triffst, weil du Angst vor ihnen hast, denn manche Frauen können wirklich furchterregend sein. Auch die Sorge, dass dir ein Papagei das Auge aushackt, ist verzeihlich, aber du darfst keine Angst vor der Welt haben. Diese Angst knechtet.
Figaro: Keine Angst, Keine Angst. Pah! Wenn ich keine Angst vor der Welt haben soll, dann soll die Welt gefälligst nicht so furchterregend sein. Polsterlawinen statt Erdrutsche, Bandenknuddeleien statt Bandenschießereien, Clementia statt Korruption.
Ignacio: Weißt du was, Figaro? Eine harmlose Rasur wird dir helfen die bedrohliche Welt hinter dir zu lassen. Wenn du den Schaum aufgeschlagen hast, werden deine Sorgen wie vergessen sein. Ich setze mich schon mal in den Sessel, damit du dich ganz auf die Arbeit konzentrieren und so die Welt vergessen kannst.

(Ignacio setzt sich und Figaro bereitet die Rasierutensilien vor.)

Figaro (spöttisch.): Figaro, entspann dich. Figaro, beruhige dich. Figaro, lass dich nicht durch deine Angst knechten. Er hat gut reden. Er liest ja keine Zeitung. Bei seiner Blindheit wäre ich auch entspannt. Wenn er das wüsste, was ich weiß, hätte er sich schon zuhause verkrochen. Jawohl Figaro, du bist kein Feigling, sondern Draufgänger, ein wahrer Hasardeur, weil du nach wie vor das Haus verlässt. Jawohl Figaro, du bist der Haare schneidende James Bond des Proletariats.

(Figaro trägt den Schaum auf und beginnt mit der Rasur. Soldat 1 auf. Figaro erstarrt.)

Ignacio: Au, du hast mich geschnitten. Dafür hätte ich nicht hierher kommen müssen. Das habe ich auch schon zuhause geschafft.
Figaro: Soldat
Ignacio: Was?
Figaro: Soldat.
Ignacio: Was für ein Soldat?
Figaro: Du weißt schon, ein Soldat halt eben. Uniform, grimmiger Gesichtsausdruck. So ein Soldat ist hier.
Ignacio: Ein Soldat, der sich vermutlich die Haare schneiden lassen will.
Figaro: Ich sage das nur ungern, aber er hat keine Haare. Ich könnte höchstens seine Glatze polieren.
Ignacio: Bei aller Freundschaft, du musst dir Hilfe holen, Figaro. Es kann nicht sein, dass du wegen jeder Kleinigkeit in Panik gerätst. Dann hat der Soldat einfach keine Haare. Polier seine Glatze, wichse seine Schuhe. Was weiß ich? Aber er ist sicherlich nicht wegen des Vulkans hier.
Soldat 1: Da muss ich Ihnen widersprechen. Ich habe den Auftrag, Sie über die bevorstehende Evakuierung zu informieren.
Ignacio, Figaro: Evakuierung?
Soldat 1: Korrekt. Der Anstieg der vulkanischen Aktivität veranlasste den Krisenstab zur präventiven Evakuierung des Umlands. Es –
Ignacio: Es gibt einen Krisenstab?
Soldat 1: Korrekt.
Figaro: Ha! Siehst du? Ich hatte Recht. Irgendetwas ist mit dem Vulkan passiert.
Ignacio: Was bringt dir das? Warum in aller Welt freust gerade du dich darüber? Was ist los mit dir? Was bist du für ein Idiot, dass du dich über einen Vulkanausbruch freust?
Figaro: Ich bin von der Angst befreit. Ich bin frei. Verstehst du, Ignacio? Keine Angst mehr, frei.
Soldat 1: Bitte beruhigen Sie sich. Es besteht kein Grund zur Sorge. Die notwendigen Gerätschaften sind bereitgestellt. Alles ist vorbereitet.
Figaro: Was mache ich jetzt?
Soldat 1: Sie finden sich einfach am Busbahnhof ein. Dort stehen die Fahrzeuge bereit. Bewahren Sie Ruhe.
Figaro: Ich muss weg. Ich muss verschwinden. Der Vulkan könnte jeden Moment ausbrechen. Der Vulkan will mich tot sehen. Ich bin hier nicht mehr sicher. Wo bin ich denn sicher? Die Angst ist wieder da. Keine Angst vor dem Vulkan, sondern Angst vor dem Tod. Brich nicht in Panik aus, Figaro. Keine Panik. Alles wird gut. Alles wird schon werden. Es ist nur ein Vulkan. Es ist ein Vulkan. Alles wird unter Lava begraben werden. Ich werde unter Lava begraben werden. Panik, Figaro. Es ist Zeit für Panik. Ich muss mich in Sicherheit bringen.

(Figaro will gehen.)

Soldat: Bitte, bewahren Sie Ruhe
Figaro: Dafür ist jetzt keine Zeit.
Ignacio: Was ist mit meiner Rasur?
Figaro: Was ist mit meinem Leben?
Ignacio: Warum nicht beides?
Figaro: Vulkan, deshalb.
Ignacio: Mach dich nicht lächerlich. Es ist nur eine Rasur.
Figaro: Es wird mein Tod sein. Leben und Bart oder Tod und Rasur. Ich weiß nicht, wo deine Prioritäten liegen, aber ich hänge eindeutig am Leben. Wenn ich die rasiere, dann ist es eine Rasur für Gott und der scheint wiederum Bärte zu präferieren.
Soldat 1: Bitte, bewahren Sie Ruhe.
Figaro: Nein, ich bewahre meine Fluchtmöglichkeiten. Ignacio, wir sehen uns in der Sicherheit.

(Figaro ab)

Soldat 1: Das ist heute schon der dritte, der in Panik ausbricht.
Ignacio: Wie viele Leute haben Sie denn schon informiert.
Soldat 1: Lassen wir das lieber.
Ignacio: Sie können nicht zufälligerweise mit einem Rasiermesser umgehen?
Soldat 1: Nicht, ohne Sie dabei zu töten. Aber ich habe sowieso den Eindruck, dass Sie nicht wirklich an Ihrem Leben hängen, denn Ihnen scheint der Vulkan ziemlich egal zu sein.
Ignacio: Sie kennen diese Vulkanspinner. Die machen sich wichtig.
Soldat 1: Nein, es ist wirklich ernst. Der Ausbruch steht unmittelbar bevor. Am besten gehen Sie nachhause, packen das Nötigste zusammen und begeben sich dann umgehend zum Busbahnhof, bevor alle Busse abgefahren sind. Panik ist zwar kontraproduktiv, aber die Gefahr zu unterschätzen, wäre in diesem Fall tödlich.

(Soldat 1 ab)

Ignacio: Es ist also so weit. Paz, wartet sicherlich schon voller Panik auf mich. Ich muss nachhause.

(Ignacio wischt sich eilig den Schaum vom Gesicht. Ignacio ab)

Zweite Szene

(Straße vor Ignacios Haus. Diogenes und Soldat 2 diskutieren.)

Soldat 2: Ich weise Sie darauf hin, dass ich angewiesen bin, die Evakuierung der Stadt durchzuführen.
Diogenes: Ich will aber hierbleiben und interessiere mich einen Scheißdreck für Ihre bescheuerten Anweisungen. Im Gegensatz zu den verblendeten Weicheiern, die sich in die Hose scheißen, weil sie vielleicht die Folge ihrer Lieblingsseifenoper verpassen könnten, habe ich kein Problem damit, wenn die zivilisatorische Scheiße vor die Hunde geht.
Soldat 2: Es ist mein Befehl, Sie zu evakuieren!
Diogenes: Aber ich brauche meine Innereien. Ich hänge an so sehr an ihnen, wie manch anderer an seinem Computer.
Soldat 2: Was?
Diogenes: Sie wollten mich evakuieren.
Soldat 2: Genau, es ist mein Befehl, Sie zu evakuieren.
Diogenes: Und wenn man Ihnen befiehlt sich vor den Zug zu schmeißen – wenn es in diesem Land ein funktionierendes Bahnnetz gäbe – würden Sie das auch tun?
Soldat 2: Das ist-
Diogenes: Verzeihung, mein Fehler. Wenn Sie denken könnten, wären Sie ja nicht beim Militär.
Soldat 2: Zivilisten sind Idioten, daher ist ihre Kritik belanglos. Sie tragen nicht einmal eine Uniform. Wenn Sie sich dem Befehl widersetzen, muss ich notfalls Gewalt anwenden.
Diogenes: Sie wollen mich notfalls also totprügeln, um mein Leben zu retten. Nicht der Vulkan, sondern die Logik ist Ihr größter Feind.
Soldat 2: Letzte Warnung. Es ist mein Befehl, Sie zu evakuieren.
Diogenes: Und ich warne Sie. Ich pisse auf Ihr Gesicht. Kein Befehl, sondern nur der Wille eines freien Mannes.
Soldat 2: Ich weise Sie darauf hin, dass Sie dann alleine zurück bleiben würden.
Diogenes: Umso besser, kann ich mich endlich dieser lästigen Kleider entledigen und ungestört und nackt durch die Straßen gehen. Keiner dieser Knechte, die den Stock der falschen Moral im Arsch haben, wird sich echauffieren, wenn ich pisse, scheiße, wichse, wie es sich für den gesunden Menschen gehört. Evakuieren Sie die Stadt und machen Sie den Ort zum Paradies für den freien Mann.

(Frau 3 auf)
Frau 3 nutzt ihre Reize, um evakuiert zu werden.

Frau 3: Hilfe! Hilfe! Zu Hilfe! Es ist ein Unglück. Es ist eine Katastrophe.
Soldat 2: Beruhigen Sie sich. Was ist passiert?
Frau 3: Haben Sie es noch nicht gehört? Der Vulkan wird ausbrechen. Wir werden alle unter glühender Lava begraben und dabei ist meine Haut so hitzeempfindlich.
Soldat 2: Haben Sie getrunken?
Diogenes: Natürlich hat die Schlampe getrunken. Die Angst vor der Not führt zum Exzess. Die einzige Familie, die sie verlieren könnte, sind ihre Rumflaschen und deren Inhalt, daher die rettende Vereinigung, physisch und metaphysisch, damit sie nichts verliert. Die Menschen haben Angst alles zu verlieren und besitzen daher in Wahrheit gar nichts.
Frau 3: Auf den Schock habe ich halt einen Schluck getrunken. Das ist doch normal und nichts Verwerfliches, aber der da gefällt sich in der Rolle des lustfeindlichen Flachwichsers.
Diogenes: Wenn du so gerne säufst, kann ich dir problemlos in den Mund pissen.
Frau 3: Der Gedanke daran macht dich geil, oder Perversling?
Soldat 2: Bitte beruhigen Sie sich, damit ich Sie evakuieren kann.
Frau 3: Endlich! Ausgezeichnet, wunderbar, perfekt. Evakuieren Sie mich bitte. Evakuieren sie mich oder bringen Sie mich wenigstens zum Busbahnhof.
Diogenes: Genau, evakuieren Sie die Hohlbirne und zwar jetzt und sofort, am besten durch einen Schlag auf den Kopf. Im Notfall tut es auch der Busbahnhof. Hauptsache ich bin sie los.

(Ignacio auf)

Diogenes: Ignacio, was machst du denn hier?
Soldat 2: Ich weise Sie darauf hin, dass es mein Befehl ist, Sie zu evakuieren. Bitte lassen Sie sich evakuieren.
Ignacio: Ich will nur schnell in mein Haus, um zu schauen, ob es meiner Frau gut geht und dann machen wir uns sofort auf den Weg zum Busbahnhof.
Soldat 2: Aber evakuieren Sie sich, sobald Sie sich über das Befinden Ihrer Frau informiert haben.
Ignacio: Evakuierung, Busbahnhof. Ist notiert und wird alles gemacht, aber jetzt muss in mein Haus. Ich muss zu meiner Frau.
Diogenes: Ignacio, warte!
Ignacio: Später, ich muss jetzt ins Haus.
Frau 3: Die beiden evakuieren sich schon selbst, aber ich muss gerettet werden. Sind Sie mein Retter? Bewahren Sie mich vor der Lava? Sind Sie mein Gunnery Sergeant Hartmann, mein Ritter der Kokosnuss, mein Höschenkämpfer?
Soldat 2: Mein Auftrag ist es, Sie zu evakuieren. Daher ist es meine Pflicht Sie zu evakuieren.
Diogenes: Es geht um Paz.
Ignacio: Was ist mit Paz?
Frau 3: Dann evakuieren wir uns.
Soldat 2: Die Herrschaften evakuieren sich dann nachher selbst. Das ist ein Befehl.
Diogenes: Ficken Sie sich ins Knie, denn von der Schlampe bekommen Sie höchstens Syphilis. Das Einzige, das ich evakuieren werde, ist meine Prostata. Aber Sie können ruhig verschwinden und nehmen Sie das metriculäre Miststück gleich mit.
Frau 3: Ich evakuiere mich nur zu gerne von hier, aber du, Diogenes, findest dein Glück sicherlich, wenn die Stadt zum Trottelaquarium geworden ist.

(Soldat 2, Frau 3 ab)

Ignacio: Was ist mit Paz, Diogenes? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Was ist mit ihr?
Diogenes: Sie ist nicht da.
Ignacio: Was meinst du damit?
Diogenes: Was ist daran so schwer zu verstehen? Sie ist nicht hier, sprich da, sondern an einem anderen Ort, also dort.
Ignacio: Das ist nicht der Zeitpunkt für Scherze, Diogenes. Du kannst ja gerne im Trottelaquarium bleiben, aber ich persönlich hänge an meinem Leben und möchte von hier und zwar mit Paz.
Diogenes: Paz ist wirklich nicht mehr da, darum war ich auch so erstaunt, als du plötzlich aufgetaucht bist. Sie hat mit einer Reisetasche das Haus verlassen und ich dachte, ihr würdet euch am Busbahnhof treffen. Sie ist fort.
Ignacio: Das kann nicht sein. Du musst dich irren. Sie liebt mich. Sie würde mich nie zurücklassen. Was sollte sie außerdem Pamina erzählen.
Diogenes: Wenn du stirbst, kannst du nur schwer ihrer Version widersprechen und solltest du das Chaos doch überleben, würde sie irgendwelche Ausreden aus dem Hut zaubern und deine Ohren damit verstopfen. Die weibliche Rhetorik der Moderne hätte die Sophisten vor Neid erblassen lassen.
Ignacio: Du bist sehr hilfreich.
Diogenes: Ich denke, wir beide sind uns darüber im Klaren, dass ich nie wirklich ein allgemeiner Sympathieträger war.
Ignacio: Du musst dich irren. Paz ist sicher im Haus. Sie ist im Haus.

(Ignacio ab)

Diogenes: Einen Clown würden die Menschen die haarsträubendsten Lügen abkaufen, denn er ist ja ein Clown und seine Aufgabe ist es, die Menschen zu unterhalten, aber dem Philosophen glaubt man keine einzige seiner unangenehmen Wahrheiten. So erfährt er die Tatsachen nur von der Realität und das kann ich mir nicht entgehen lassen.

(Diogenes ab)

Dritte Szene

(Wohnzimmer. Diogenes, Ignacio auf)

Ignacio: Meine Liebste, ich bin hier. Paz? Paz!
Diogenes: Da Paz nicht da ist, habe ich meine Schuhe angelassen.
Ignacio: Als hätte sich der freie Diogenes jemals die Schuhe ausgezogen, nur weil man es ihm gesagt hat. Du bist ja auch im Widerspruch frei.
Diogenes: Die Betonung lag auch nicht am Sachverhalt, sondern auf der Begründung.
Ignacio: Spar dir deine Sticheleien und hilf mir beim Suchen. Paz muss hier irgendwo sein. Paz? Meine Liebste, wo bist du?
Diogenes (zu sich.): Was für eine Tragödie. Mein einziger Freund ist ein Idiot. Da hat ihn der Drache freiwillig verlassen und er trauert seiner Knechtschaft nach. Es ist mir ein Rätsel, warum die Menschen ihre Unterdrücker hochleben lassen. Das ist eine Perversion, aber mich nennen sie einen Sonderling.
Ignacio: Hoffentlich ist ihr nichts passiert. Du kennst sie ja, Diogenes. Sie reagiert oftmals sehr emotional.
Diogenes: So kann man Hysterie auch umschreiben.
Ignacio: Ein Geräusch. Es kam aus dem Badezimmer Das muss Paz sein. Siehst du? Ich hatte Recht. Ich muss ins Bad. Nicht, dass ihr etwas passiert ist.

(Ignacio ab)

Diogenes: Vielleicht ist es auch Don Juan, der das Waschbecken belästigt, oder Faust, der bei seinen suizidalen Experimenten die Dusche gesprengt hat. Unwahrscheinlicher als Paz‘ Anwesenheit wäre das nicht. Aber er will es nicht wahrhaben. Amor hat ihm wohl die Augen ausgestochen und bei der Gelegenheit auch sein Hirn gefressen, so deppert wie er sich aufführt. Er benimmt sich wie ein trotteliger Hund, der gegen eine Glasscheibe läuft und zwar jeden Tag. Jetzt hat man ihm die Tür geöffnet, aber er läuft immer noch gegen die Scheibe. Paz ist weg und Ignacio sucht nach, anstatt das einzig Vernünftige zu tun, nämlich alles in die Wege zu leiten, um ihre Rückkehr zu verhindern. Er hat wirklich Liebe im Arsch und die Vernunft hat er auch schon evakuiert. Er will seine Herrin zurück. Er will wieder leiden. Die Menschheit, ein Haufen von Masochisten.

(Ignacio auf)

Ignacio: Sie war nicht im Bad, auch nicht im Schlafzimmer, aber sie muss hier irgendwo sein. Sie ist sicherlich krank vor Sorge.
Diogenes: Wunderbar, dann lass uns verschwinden.
Ignacio: Wo ist sie, Diogenes? Wo ist Paz? Sie muss hier sein. Sie ist hier irgendwo. Aber warum kann ich sie nicht finden?
Diogenes: Weil sie ohne dich geflohen ist. Sie hat ihre Koffer gepackt und alles mitgenommen, was ihr lieb und teuer ist und du gehörst anscheinend nicht dazu.
Ignacio: Nein, das kann nicht sein. Es muss etwas passiert sein. Irgendetwas ist vorgefallen.
Diogenes: Ja, es gab den Befehl die Stadt zu evakuieren, daraufhin ist Paz verschwunden, fortgegangen, abgedampft, hat sich marginalisiert, sich fortgestohlen, hat die Platte geputzt, einen Abgang gemacht, die Kurve gekratzt, ist abgezischt, losgezogen, verduftet, von dannen gegangen, hat sich
Ignacio: Die Botschaft ist angekommen.
Diogenes: Verzupft, absentiert, getrollt, verkrümmelt, verdünnisiert, vom Acker gemacht, sich verpisst-
Ignacio: Du könntest dich nützlich machen und mir beim Suchen helfen.
Diogenes: Einverstanden, ich suche in der Küche.
Ignacio: Danke.
Diogenes: Und zwar nach einer Flasche Wein.
Ignacio: Die wirst du nicht finden, suche lieber nach Paz.
Diogenes: Ich sehe den Unterschied zwar nicht, aber dann nehme ich einfach Bier, wenn Wein und Paz nicht da sind.
Ignacio: Es sind nur ausländische Marken in der Küche.
Diogenes: Das beste Bier ist sowieso das, wofür ein anderer gezahlt hat.

(Diogenes ab, Ignacio hetzt durch das Wohnzimmer.)

Ignacio: Sie ist nicht hier. Sie ist verschwunden. Sie ist ohne mich gegangen. Das ganze Haus habe ich abgesucht. Es ist leer, keine Seele wohnt in ihm. Keine Paz war zu entdecken, keine Nachricht zu finden. Bin ich vielleicht wirklich das einzige Relikt dieser Ehe?

(Diogenes auf)

Ignacio: Wohin ist sie gegangen?
Diogenes: Wer?
Ignacio: Wer wohl, Diogenes? Wohin ist Paz gegangen. Du hast gesagt, Paz wäre von hier fortgegangen. Wohin? Wohin ist sie gegangen?
Diogenes: Warum sollte ich es dir sagen? Du bist jetzt frei, Ignacio. Verstehst du? Du bist frei. Die Liebe hat dich auf ihren Klauen entlassen. Jetzt kannst du dich von deinen Lüsten und Ängsten emanzipieren. Es lebe die Freiheit.
Ignacio: Ich bin kein Philosoph, kein Asket, kein Visionär. Ich bin ein einfacher Mann, der sein Leben mit der Frau verbringen möchte, die er liebt. Dein Glück mag in der Freiheit liegen, aber meines liegt in den Armen dieser Frau.
Diogenes (nuschelt.): Zum Busbahnhof.
Ignacio: Was hast du gesagt?
Diogenes: Zum Busbahnhof.
Ignacio: Danke. Ich muss sofort zum Busbahnhof laufen. Paz mag ohne mich das Haus verlassen haben, aber die Stadt wird sie mit mir verlassen.

(Ignacio eilt zur Tür, hält aber inne.)

Ignacio: Du willst nicht mitkommen, oder?
Diogenes: Nein, es wäre eine Schande, wenn die Zivilisation ohne Diogenes, aber Diogenes nicht ohne die Zivilisation auskäme.
Ignacio: Du wirst den Vulkanausbruch vielleicht nicht überleben.
Diogenes: Wir sind alle Knechte, Ignacio. Die meisten sind Knechte ihrer Lüste, du bist der Knecht deiner Liebe und ich bin ein Knecht der Natur. Der Unterschied ist, dass die Natur die einzig wahre Herrin ist, weshalb der Mensch zu seinem Wohl ein naturgemäßes Leben führen soll. Und was ist natürlicher als der Tod?
Ignacio: Dann pass auf dich auf, Diogenes. Ich hoffe, dass du es schaffst. Alles Gute.
Diogenes: Du wirst Paz schon finden, mein Freund.
Ignacio: Danke, mein Freund.

(Ignacio ab)

Diogenes: Ignacio wird Paz nie finden. Sie hat ihn verlassen. Sie hat ihn verraten. Ich denke es ist an der Zeit diesen Vorfall mit dem Schinken in der Küche zu bereden.

Vierte Szene

(Busbahnhof. Frau 1, Soldat 1 und Soldat 3 anwesend. Im Hintergrund ist ein einziger Bus zu sehen.)
Bühnenbildskizze: Dorfplatz ohne Busbahnhof

Frau 1: Kann ich nun endlich einsteigen oder wird darauf gewartet, dass die Lava uns persönlich zur Notunterkunft spült?
Soldat 1: Bitte beruhigen Sie sich. Sie können gleich einsteigen.
Frau 1: Ich will aber nicht gleich, sondern jetzt einsteigen.
Soldat 1: Das ist nicht möglich.
Frau 1: Warum geht es nicht? Der Bus ist da und ich bin da. Es braucht nicht einmal einen Fahrer. Ich bringe die verdammte Blechbüchse schon zum Laufen.
Soldat 1: Schaltgetriebe.
Frau 1: Hat mein Auto auch. Warum kann ich dann nicht in den verfickten Bus? Die Formulare sind ausgefüllt, der Dringlichkeitsbeitrag gezahlt. Was denken Sie sich diesmal aus? Verhindern die USA die Abfahrt oder sind es diesmal sogar kleine Gnome, die dazu führen, dass ich auf diesem Platz verrecken werde.
Soldat 1: Ich; ich. Das-
Frau 1: Hat es Ihnen die Sprache verschlagen? Sind Ihnen die Ausreden ausgegangen? Fällt Ihnen nichts mehr ein? Waren die Gnome Ihre letzte Erklärung, die Sie jetzt nicht mehr bringen können? Lassen Sie mich endlich in den verdammten Bus.
Soldat 1: Ich; äh; ich. Ich muss, äh.-
Frau 1: Ich, ich, ich. Ist Ihr Hirn durchgebrannt oder weshalb können Sie nicht mehr sprechen?
Soldat 3: Beruhigen Sie sich. Sie können gleich einstiegen. Wir haben die Situation unter Kontrolle. Es besteht kein Grund zur Panik.

(Frau 2 auf)

Frau 1: Panik? Ich bin nicht panisch, sondern koche vor Wut.
Frau 2: Anita, was machst du hier?
Frau 1: Desdemona?
Frau 2: Ja. Ich dachte, du wärst schon längst geflohen.
Frau 1: Hatte ich auch vor, aber die Vollpfosten wollen darauf warten, dass der Vulkan ausbricht, bevor sie etwas unternehmen.
Soldat 1: Das ist-
Frau 1: Klappe halten, ich rede gerade. Desdemona, wo ist dein Mann?
Frau 2: Den Versager bin ich los.
Frau 1: Nein, das kann nicht sein. Hat er dich etwa auch betrogen?
Frau 2: Nein, der hat sich vor Angst nur fast in die Hose geschissen und dann die grandiose Idee gehabt, seine Furcht in Rum zu ertränken. Plötzlich war der Vulkan eine Lächerlichkeit, vor der nur noch ein paar verweichlichte Pussys fliehen. Ein echter Mann wie er könne es aber jeder Zeit problemlos mit zehn dieser Vulkane aufnahmen. Nur weil ein paar Trottel in Panik ausbrechen, lässt er doch seinen Rum nicht zurück aber wenn ich glaube, weil eine bestimmte Zeit im Monat sei, könne ich den Teufel an die Wand malen, wisse ich ja, wo die Tür ist.
Frau 1: Das ist furchtbar.
Frau 2: Vor allem für ihn. Ich hab nämlich den ganzen Rum mitgenommen. Schauen wir einmal, ob er in ein paar Stunden auch so männlich ist, wenn kotzend über dem Klo hängt.
Frau 1: Ist der Rum in der Tasche?
Frau 2: Genau.
Frau 1: Die muss verdammt schwer sein, aber die Rache macht jede Last erträglich.
Frau 2: Warte. Hast du mich gerade gefragt, ob mein Mann mich auch betrogen hat?
Frau 1: Ja, das habe ich.
Frau 2: Die Betonung liegt auf auch.
Frau 1: Ja, der Bastard hat mich betrogen. Es hat sich herausgestellt, dass er eine Geliebte hatte.
Frau 2: Er hat dir das einfach so ins Gesicht gesagt? Er hat sich also gedacht, wenn der Vulkan sowieso ausbricht, kann er dir auch gleich sagen, dass er eine Geliebte hat?
Frau 1: Nicht direkt.
Frau 2: Dann hast du das Arschloch in flagranti erwischt.
Frau 1: Er hat mir einen Zettel am Küchentisch gelassen, auf dem steht, dass die Stadt evakuiert wird und er mich für seine Geliebte verlassen hat. Außerdem hat er die Katze mitgenommen und den Goldschmuck gestohlen, den er mir zur Hochzeit geschenkt hat.

(Frau 3 und Soldat 2 auf)

Frau 2: Was für ein Arschloch.
Frau 1: Hoffentlich beißt im die Schlampe den Schwanz ab, egal ob buchstäblich oder metaphorisch.
Frau 2: Salomé, du hier? Nein, das kann nicht sein.
Frau 3: Doch ich bin hier. Wir drei sind wieder vereint.
Frau 1: Und zwar im Tode wie es scheint. Die Flachwichser wollen uns nicht in den Bus einsteigen lassen.
Frau 3: Aber ich bin hier, um mich evakuieren zu lassen. Ich muss in den diesen Bus. (Zu Soldat 2.). Du hast gesagt, du bist mein Ritter der Kokosnuss. Öffne die Tür für mich.
Soldat 2: Sofort! Öffnet die Tür.
Soldat 3: Die Tür wird nicht geöffnet. Das ist ein Befehl.
Soldat 2: Die Tür wird nicht geöffnet.
Frau 3: Warum können Sie die Tür nicht öffnen?
Soldat 2: Der Befehl lautet, dass die Tür verschlossen bleibt.
Frau 3: Und wenn ich Sie darum bitte die Tür zu öffnen? Was ist, wenn ich ganz brav und nett bitte sage?
Soldat 2: Dann bleibt die Tür verschlossen. Es tut mir leid, aber der Befehl lautet nun einmal die Tür nicht zu öffnen und Befehl ist Befehl.
Frau 1: Dass die anderen beiden kein Hirn haben, war mir schon klar, aber du hast weder Hirn noch Eider, Schlappschwanz.
Frau 3: Und ich dachte, Sie wären mein Höschenkämpfer.
Soldat 2: Was soll ich tun? Der Befehl lautet, die Tür nicht zu öffnen.
Frau 2: Dann befehlen Sie einfach, dass die Tür zu öffnen ist.
Soldat 2: Das geht nicht. Er hat die Befehlsgewalt.
Soldat 1: Genau, er hat die Befehlsgewalt.
Soldat 3: So ist es, ich habe die Befehlsgewalt und ich befehle, dass die Tür geschlossen bleibt.
Frau 1: Dann sind Sie also der Kapazunder, der Vernunft nur aus anderer Leute Taten kennt.
Soldat 3: Das ist unerhört. Als würde ich mich dafür interessieren, was irgendwelche dahergelaufene Zivilisten machen.
Frau 1: Wie konnte ich auch nur annehmen, dass der Umfang Ihres Verstandes annähernd so groß wäre wie der Umfang Ihres Bauchs?

Frau 2 hätte besser auf ihren Charme und nicht auf ihre Angst gesetzt

Frau 2: Hör auf damit, Anita. Du reizt ihn noch.
Frau 1: Was will er tun? Uns nicht den Bus lassen? Warte, dass macht er jetzt schon.
Frau 2: Sie hat es nicht so gemeint. Das ist alles sicherlich ein großes Missverständnis. Wir wollen weg von hier. Wir haben Angst.
Frau 3: Ich bin mir sicher, ein echter Mann wie unser Soldat hier wird einer dankbaren Frau keine Bitte abschlagen. Er wird uns aus unserer Not retten, nicht wahr?
Soldat 3: Nun ja, also
Frau 1: Spar die die Mühe, Salomé. Der fette Schimpanse kriegt nicht einmal einen hoch, wenn er einen Kran hätte und sein Leben davon abhinge. Deshalb glaubt er, das kompensieren zu müssen indem er uns den Zutritt verwehrt.
Soldat 3: Humbug. Das ist alles Humbug. Ich sage, niemand steigt in den Bus ein. Das ist ein Befehl!
Frau 1: Warum können wir dann nicht in den verfickten Bus einstiegen?
Frau 3: Als echter Mann wird er einer Frau in Nöten keine Bitte abschlagen.
Frau 2: Bitte, seien Sie vernünftig und lassen Sie uns einsteigen.
Soldat 3 (seufzt.): Nun; vielleicht. Nein, es darf niemand in den Bus einsteigen!
Frau 1: Vermutlich ist das Scheißding sowieso kaputt.
Soldat 3: Das lässt sich so nicht sagen.
Frau 2: Der Bus kann also nicht losfahren? Wir sind verdammt. Wir sind verloren. Es ist vorbei, schnöde Welt, und dabei wollte ich noch einmal Rom sehen. Rom sehen und sterben.
Soldat 3: Bitte bewahren Sie Ruhe. Sie werden evakuiert werden.
Frau 1: Warum können wir dann nicht in den verfickten Bus?
Soldat 3: Also-
Frau 3: Wenn Sie uns nicht die Rettung schenken wollen, so geben Sie uns wenigstens die Wahrheit.
Soldat 3: Also gut, wenn es sein muss, aber geraten Sie nicht in Panik. Es besteht kein Grund zur Panik. Wir haben alles unter Kontrolle; außer den Bus. Der will nicht wie wir wollen.
Frau 2: Ach, ich hab’s geahnt. Es ist vorbei. Die Taschen voller Rum, aber keine Hoffnung im Herzen.
Frau 3: Besser als andersrum.
Frau 1: Was funktioniert denn nicht?
Soldat 3: Keine Ahnung.
Frau 1: Sie wissen es nicht?
Soldat 3: Woher auch? Ich bin Soldat und kein Mechaniker.
Frau 3: Dann holen Sie den Mechaniker.
Soldat 3: Ich nehme keine Befehle von Zivilisten entgegen, aber ich habe schon um einen Techniker angesucht.
Frau 2: Wann wird er da sein?
Soldat 3: Es dürfte sich nur noch um Stunden handeln.
Frau 2: Stunden?
Frau 1: Warum ist unter Ihnen kein Mechaniker?
Soldat 3: Wir sind hier um Leute zu evakuieren, keine Autos.
Frau 1: Sie transpirieren so viel Dummheit, dass ich meinen Kopf gegen die Buswand schlagen möchte. Wie kann man bloß so blöd sein? Sie haben sicherlich auch auf dem Klo eine Notiz, auf der steht, dass Sie den Arsch nicht mit der Hand abwischen dürfen.
Soldat 3: Bitte bewahren Sie Ruhe.

(Pfarrer auf)

Frau 1, Frau 2, Frau 3: Nein, nein, das kann nicht sein.
Pfarrer: Was ist denn hier los?
Soldat 3: Die Zivilistinnen sind ganz aufgeschreckt und wollen sich nicht beruhigen lassen. Bitte, bringen Sie sie zur Räson.
Pfarrer: Plötzlich bin ich den Sozialisten wieder gut genug, aber Gott liebt alle seine Schafe und ich will zumindest versuchen, es ihm gleichzutun.
Frau 1: Glauben Sie diesen bescheuerten Hohlbirnen kein Wort. Die schämen sich nur dafür, dass sie zu dämlich sind, ein paar Leute in Sicherheit zu bringen.
Pfarrer: Wie bitte?
Frau 1: Der – nehmen Sie mir diesen Ausdruck nicht übel, Herr Pfarrer – verfickte Bus will nicht funktionieren.
Pfarrer: Wo bleibt denn Ihre Hoffnung? Ich bin mir sicher, dass noch weitere Buse bereitstehen und in Kürze da sein werden.
Soldat 3: Ich vermelde, dass dieser Bus der Rest des uns zugeteilten Kontingents ist.
Frau 1: Alles andere wäre auch eine Überraschung gewesen, denn beim Militär sagt man ja, Vaterland und Sozialismus oder Tod und nicht Vaterland und funktionierende Infrastruktur oder Tod. Dieser kleine, aber feine Unterschied wird uns noch das Leben kosten. Ich werde zur Märtyrerin einer Ideologie, an die ich nicht glaube.
Frau 2: Wir werden alle sterben. Der Vulkan wir uns alle töten.
Pfarrer: Meine Liebe, ich bitte Sie, verlieren Sie nicht die Hoffnung. Gerade in der Krise müssen Sie auf Gott vertrauen. Er wird Ihnen den rechten Weg weisen. Er wird Sie in seiner unendlichen Güte und Vergebung retten.
Frau 3: Das ist der größte Bullshit, den ich jemals gehört habe. Wo ist Gott jetzt? Wo ist seine unendliche Güte, wenn ich sie am meisten brauche? Genau, sie ist nicht vorhanden. Er ist nicht da. Es ist leicht über Gottes Größe zu lamentieren, wenn man mit dem Glücklichen spricht, denn man kann so tun, als ließe sich sein Glück auf Gott zurückführen, aber beim Leidenden ist das nicht mehr möglich. Ich rufe Gott. Ich rufe ihn, aber wo bleibt er? Der Allmächtige kann sich nicht aus unserer Gedankenwelt befreien.
Pfarrer: Diese Worte sind gefährlich, denn sie wirken klug, obwohl sie töricht sind. Gott steht außerhalb unserer Begrifflichkeit. Wir können ihn nur erfahren, aber nicht verstehen, daher sind seine Wege für uns manchmal uneinsehbar, aber trotzdem dürfen wir nicht den Glauben verlieren.
Soldat 3: Das stimmt. Man zweifelt nicht am Comandante, unbedeutend ob irdisch oder himmlisch.
Frau 1: Ich habe diese leeren Phrasen satt. Ich will keine Erlösung. Ich will einen funktionierenden Bus.
Frau 2: Es bleibt keine Hoffnung mehr. Der Vulkan wird uns unter seiner Lava begraben. Wir werden alle qualvoll bei lebendigem Leibe verbrennen. Warum war ich so dumm und habe versucht meinen Mann zur Flucht zu überreden? Warum passiert das mir und nicht Aljaksandr Lukaschenka? Warum muss ich sterben und nicht Kim Jong Un. Ich will nicht, dass-

(Ignacio auf. Er eilt zu Soldat 3 und beendet die Klage von Frau 2, indem er sie zur Seite stößt.)

Ignacio: Paz? Paz, bist du hier? Paz! Sie muss hier irgendwo sein. Sie wäre nicht ohne mich gefahren. (Zu Soldat 3.). Sie müssen mir helfen.
Soldat 3: Erstens muss ich gar nichts, denn ich nehme keine Befehle von einem Zivilisten entgegen und zweitens habe ich keine Ahnung, was Sie von mir wollen. Beruhigen Sie sich und danach erklären Sie mir alles.
Ignacio: Ich suche meine Ehefrau. Sie heißt Paz. Mundí. Also Paz ist ihr Vorname und Mundí der Nachnahme, nicht dass Sie glauben, sie würde Pazmundí heißen.
Soldat 3: Bitte bewahren Sie Ruhe
Ignacio: Verzeihung, aber ich bin verzweifelt. Meine Ehefrau hätte eigentlich zuhause sein sollen. Dort war sie aber nicht und eine Nachricht habe ich auch nicht gefunden. Dann hat mir Diogenes erzählt, sie wäre zum Busbahnhof gegangen und ich bin sofort los und jetzt bin ich hier und ich sehe sie immer noch nicht. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Sie müssen mir helfen Ich muss Paz finden. Ich will sie nicht verlieren.
Soldat 3 (zeigt aus Soldat 1.): Verstanden. Gehen Sie zu José. Er hat die Liste mit den Evakuierten.
Ignacio: Danke, vielen Dank.
Frau 3 (für sich.): Und eine weitere Liebe, die weniger Wert war als der Tod.
Ignacio: José, Sie –
Soldat 1: Ich heiße nicht José
Ignacio: Aber mir wurde gesagt, dass Sie-
Soldat 1: Er nennt uns alle José. Er kann sich keine Namen merken.
Ignacio: Aber Sie haben doch hoffentlich die Liste? Sie müssen schauen, ob meine Frau Paz Mundí schon die Stadt verlassen hat, ob sie hier war oder ähnliches. Ich muss wissen, was mit ihr geschehen ist, wo sie ist, wo sie seien könnte.

(Soldat 1 blättert in einer Mappe.)

Soldat 1: Vor etwas mehr als einer Stunde hat sie die Stadt verlassen.
Ignacio: Das kann nicht sein. Da muss ein Irrtum vorliegen.
Soldat 1: Es tut mir leid, aber es ist kein Irrtum. Sie hat ihren Ausweis vorgelegt. Ihr panischer Freund, der Friseur, hat übrigens auch die Stadt verlassen.
Ignacio: Wenigstens ist meine Paz in Sicherheit. (Ignacio tritt vor bis zum Bühnenrand.). Ach ich fühl’s, es ist verschwunden, ewig hin der Liebe Glück. Niemals kommen Wonnestunden in mein Herz zurück. Sieh meine Liebste, die Tränen fließen, Paz für dich allein. Fühlst du nicht das Sehnen meiner Liebe? Mein Herz zerspringt vor Qual. Meine Gedanken strömen über. Die Wirklichkeit ist mir fremd geworden. Es ist als würde mir jemand die Worte in den Mund legen. (Er geht zurück zu den anderen.). Da meine Hoffnung ins Nichts gefahren ist, sollte ich es ihr gleichtun und in den Bus steigen. Die Sicherheit hat keinen Wert mehr für mich, aber wenigstens entfliehe ich dem Leid.
Soldat 3: Es tut mir leid, aber Sie können nicht in den Bus steigen.
Ignacio: Meine Frau hat mich verlassen und nun versetzt mich auch ein Bus.
Frau 1: Er versetzt nicht nur Sie, Señor Mundí; er versetzt uns alle, denn das verfickte Ding will nicht funktionieren.
Soldat 3: Das können Sie den Leuten nicht so einfach ins Gesicht sagen. Das sind Zivilisten. Die können damit nicht umgehen.
Frau 3: Und Soldaten können nicht mit einem Bus umgehen.
Ignacio: Und ich konnte anscheinend nicht mit meiner Frau umgehen.
Pfarrer: Señor Mundí, hegen Sie keinen Gram gegen menschliche Fehler, denn es ist menschlich, Fehler zu machen. Dieser Pfad führt ins Unglück. Gott aber zeigte uns, dass die Erfüllung im Verzeihen liegt.
Ignacio: Herr Pfarrer, ich bin nicht Gott, sondern nur ein Mensch, lassen Sich mich meine Fehler machen, denn es ist anscheinend das Einzige, das ich kann.
Pfarrer: Kommen Sie zur Vernunft, Señor Mundí. Sie dürfen die Hoffnung nicht verlieren. Gott gab Ihnen einen Lebenssinn, schmeißen Sie ihn nicht weg.
Ignacio: Pamina. Ich muss mit Pamina sprechen.

(Ignacio eilt zur Telephonzelle und wählt eine Nummer.)

Frau 3: Wo bleibt der Mechaniker?
Soldat 3: Es ist unterwegs.
Frau 2: Hoffentlich hat er keine Panne.
Frau 1: Er ist Mechaniker, wenn er damit nicht fertig wird, ist er nicht zu gebrauchen.
Ignacio: Pamina? Pamina! Ich muss-. Nein, hör mir zu. Bitte, nicht-. Zu spät, sie hat aufgelegt. Dabei wollte ich nur sagen, dass ich sie liebe.

(Persephone auf)

Persephone (singt weiter, während die anderen sprechen.):
Dies irae dies illa,
Solvet saeclum in favilla:
Teste David cum Sibylla.

Quantus tremor est futurus,
Quando iudex est venturus,
Cuncta stricte discussurus!

Tuba mirum spargens sonum
Per sepulcra regionum
Coget omnes ante thronum.

Mors stupebit et natura,
Cum resurget creatura,
Iudicanti responsura.

Liber scriptus proferetur,
In quo totum continetur,
Unde mundus iudicetur.

Iudex ergo cum sedebit,
Quidquid latet apparebit:
Nil inultum remanebit.
Soldat 3 (Nachdem Persephone die erste Strophe gesungen hat.): Nein, die Tür bleibt geschlossen. Das ist ein Befehl!
Soldat 2: Ich glaube nicht, dass die Zivilistin in den Bus will.
Frau 2: Braucht Sie vielleicht Hilfe?
Soldat 1: Woher soll ich das wissen? Ich spreche kein Niederländisch.
Pfarrer: Dieser Worte Klang berührt mein Herz. Er öffnet mir die Augen. Ich spüre, wie der Sinn mich erfüllt. Es ist vorbei. Es ist gerichtet. Es ist vernichtet.
Persephone, Pfarrer (singen, während die anderen reden.):
Quid sum miser tunc dicturus?
Quem patronum rogaturus,
Cum vix iustus sit securus?

Rex tremendae maiestatis,
Qui salvandos salvas gratis:
Salva me, fons pietatis.

Recordare Iesu pie,
Quod sum causa tuae viae:
Ne me perdas illa die.
Soldat 3: Er hat Recht. Das ist der Rhythmus, bei dem man mit muss. Soldaten, wir singen mit.
Persephone, Pfarrer, Soldat 3:
Quaerens me, sedisti lassus:
Redemisti crucem passus:
Tantus labor non sit cassus
Persephone, Pfarrer, alle Soldaten (singen, während die anderen sprechen.):

Iuste iudex ultionis,
Donum fac remissionis,
Ante diem rationis.

Ingemisco, tamquam reus:
Culpa rubet vultus meus:
Supplicanti parce Deus.

Qui Mariam absolvisti,
Et latronem exaudisti,
Mihi quoque spem dedisti.
Frau 1: Was hat das zu bedeuten?
Frau 3: Jemand hat den Kopf des Propheten geküsst.
Frau 2: Nein. Versteht ihr die Worte nicht? Es ist die Erlösung. Es ist die Befreiung.
Persephone, Pfarrer, Frau 2, alle Soldaten (singen, während die anderen sprechen.):
Preces meae non sunt dignae:
Sed tu bonus fac benigne,
Ne perenni cremer igne.
Frau 3: Warum hast du mich nicht angesehen, Jochanaan!
Alle außer Frau 1 und Ignacio (singen, während die anderen sprechen.): Inter oves locum praesta,
Et ab haedis me sequestra,
Statuens in parte dextra.
Frau 1: Ma qual mai s’offre, oh Dei, spettacolo funesto agli occhi miei!
Alle außer Ignacio (singen, während Ignacio spricht.):

Confutatis maledictis,
Flammis acribus addictis,
Voca me cum benedictis.

Oro supplex et acclinis,
Cor contritum quasi cinis:
Gere curam mei finis.

Lacrimosa dies illa,
Qua resurget ex favilla
Iudicandus homo reus:
Huic ergo parce Deus.
Ignacio: Alle verlieren ihren Verstand, nur ich verliere meine Frau. Die Welt ist wahrlich ungerecht. Was nutzt es mir, denken zu können, wenn meine Gedanken nur um mein Unglück kreisen.

(Persephone tritt aus der Reihe der Singenden und stellt sich neben Ignacio. Die anderen unterbrechen ihren Gesang nicht und beginnen wieder mit der ersten Strophe.)
Persephone: Ihr seid alle verdammt.

Alle außer Ignacio und Persephone:
Dies irae dies illa
Solvet saeclum in favilla:
Teste David cum Sibylla.

Quantus tremor est futurus,
Quando iudex est venturus,
Cuncta stricte discussurus!

Tuba mirum spargens sonum
Per sepulcra regionum
Coget omnes ante thronum.

Alle außer Ignacio und Persophene (singen, während die anderen sprechen.):
Mors stupebit et natura,
Cum resurget creatura,
Iudicanti responsura.

Liber scriptus proferetur,
In quo totum continetur,
Unde mundus iudicetur.

Iudex ergo cum sedebit,
Quidquid latet apparebit:
Nil inultum remanebit.

Quid sum miser tunc dicturus?
Quem patronum rogaturus,
Cum vix iustus sit securus?

Rex tremendae maiestatis,
Qui salvandos salvas gratis:
Salva me, fons pietatis.

Recordare Iesu pie,
Quod sum causa tuae viae:
Ne me perdas illa die.

Quaerens me, sedisti lassus:
Redemisti crucem passus:
Tantus labor non sit cassus.
Persephone: Es ist vorbei. Die Welt ist Geschichte. Das Zeitalter des Chaos‘ bricht an. Reiche mir deine Hand, damit ich dich von den Qualen dieser Welt befreie.
Ignacio: Die Welt mag mit mir fertig sein, aber ich noch nicht mit ihr.

(Ignacio ab)

Persephone: Gefallen, gefallen ist Babylon die Große, die alle Völker betrunken gemacht hat mit dem Zornwein ihrer Hurerei.

(Der Gesang wird lauter und verstummt erst, wenn der Vorhang gefallen ist.)

Dritter Akt

Erste Szene

(Palmengesäumter Strand. Zwei gepolsterte Rattansessel, die unter einem Schirm stehen, dessen Stiel von einem Tisch eingefasst ist. Am Rande der Bühne steht eine kleine Hütte und im Hintergrund ist ein roter Alfa Romeo 156 Baujahr 2004 zu sehen. Die Ouvertüre aus Mozarts Don Juan ist zu hören. Pandora auf, eilt zur Stereoanlage und stellte die Musik nach kurzer Zeit ab)
Bühnenbildskizze:Strand

Pandora: Nein, nein, nein! Das ist die falsche Musik. Man gart kein Roastbeef zu D-Mollklängen. Oh Pandora, welch blasphemische Worte kamen über deine Lippen? Mozarts „Don Giovanni“ die falsche Musik? Dieses Meisterwerk ist nie falsche Musik. Es ist immer die richtige Musik, wenngleich manchmal für den falschen Augenblick und dieser Augenblick ist ein falscher Augenblick. Die Zubereitung von Roastbeef korreliert nicht mit der Erhabenheit von Mozarts Musik.

(Pandora entschwindet ihn die Hütte und kehrt sofort mit einer Zigarre und einem Zigarrenschneider zurück. Sie setzt sich in den Rattansessel, und zündet die Zigarre an. Dann schaltet sie die Stereoanlage ein. Musik aus der Oper Carmen ist zu hören.)

Pandora: So lässt es sich leben. So ließe es sich eigentlich auch sterben. Die Meeresluft in der Nase; die göttliche Musik im Ohr; der köstliche Tabak am Gaumen. Es schmeichelt den Sinnen und fordert sich doch gleichzeitig, fordert Aufmerksamkeit. Wie süß ist diese Vereinnahmung, die mich frohlocken lässt, die mir eine erquickende Trägheit schenkt. Das Schöne ist für die Sinne, was die Philosophie für den Geist, nämlich Erfüllung. Diese Musik trägt mich. Sie belebt mich. Es lebe die Kunst; die Kunst im Allgemeinen und die Kunst in ihren Spezialitäten. Es lebe die Kunst des Philosophierens. Es lebe die Kunst des Musicierens. Es lebe die Kunst des Destillierens. Vivat, möchte ich schreien. Vivat! Vivat! Vivat! Doch wozu? Die Kunst lebt ewig. Sie ist tot. Wie genieße ich die Ewigkeit des Augenblicks, in der ich in der Schönheit versinke und den Musen gleich in das göttliche Reich der Erfüllung blicke. In den Zeiten, in denen mir diese Zuflucht verwehrt wird, bleibt mir nur der Genuss, aber mein Verdruss soll es nicht sein. Ein komplexer Whisky hier; ein zartes Steak da. Das soll mich nicht als Grund zur Klage reichen. Keine Ziele, keine Zwänge, keine Knechtschaft. Als freier Mensch sitze ich hier, befreit vom werdenden Weltwillen. Die Fesseln der Ethik, die Ketten der Pflicht habe ich abgelegt und das schillernde Gewand des Ästheten angezogen. Nie war Weltflucht süßer. Nie war Eskapismus edler. Nie war Passivität energischer. Ich liebe dich, Schönheit. Ich liebe dich abgöttisch. Oh, was ist das? Mein Magen meldet sich zu Wort und meine Nase verkündet das Evangelium des fertigen Roastbeefs. Vollenden wir die Tat und erretten wir das Opfer auf der Hölle.

(Pandora ab)

Zweite Szene

(Szene wir vorhin. Pandora sitzt im Sessel und isst einen Mohr im Hemd.)

Pandora: Köstlich, vorzüglich, exquisit. Es lässt sich nicht leugnen. Paris hat die Mode, Rom die Frauen und Wien, Wien hat die Mehlspeisen. Apfelstrudel, Sachertorte, Buchteln mit Vanillesauce, Palatschinken mit Marillenmarmelade, Kaiserschmarren mit Zwetschkenröster, Gugelhupf, Mohnnudeln, Topfenknödel und Mohr im Hemd. Kein Besuch in der Wiener Staatsoper wäre für mich jemals komplett, wenn er nicht durch einen Mohr im Hemd im Café Central eingeleitet wird und sein Ende durch die Frankfurter vom Bitzinger findet. Ah siaße Zoat, i vermiss di a bissl.

(Ignacio auf)

Ignacio: Ich will nicht stören, aber können Sie mir vielleicht sagen, wo ich bin? Ich habe nämlich keine Ahnung und muss aber dringend weg von hier. Dazu müsste ich aber wissen, wo genau hier ist.
Pandora: Die Einsamkeit scheint mir aufs Gemüt zu schlagen. Nun imaginiere ich schon Stimmen. Ist es Wahnsinn oder ist es mir gelungen Gemeinschaft durch Phantasie zu substituieren? Die Frage ist aber vielmehr, worin sich die beiden Optionen überhaupt unterscheiden.
Ignacio (für sich.): Sie spricht mit sich selbst. Die Ärmste wird hoffentlich keinen Hitzschlag erlitten haben. (Laut.) Geht es Ihnen gut? Ist alles in Ordnung? Brauchen Sie vielleicht Hilfe?
Pandora: Also das Imaginieren von Stimmen muss ich noch üben, denn diese ist ganz und gar langweilig. Nicht ein einziger Witz ist ihr über die wohl nicht vorhandenen Lippen gekommen. Ist vielleicht gar das Imaginierte Realität und meine Realität nur Imagination? (Dreht sich um und erblickt Ignacio.). Tatsächlich, dort hinten steht ein Mann, falls ich ihn nicht auch imaginiere, denn wenn meine Phantasie schon Stimmen erschaffen kann, ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Geburt ganze Menschen. Gleich sitze ich bestimmt im Petersdom. (winkt Ignacio.) Salve!

Pandora ist von ihrer Imaginationsfähigkeit nicht sonderlich beeindruckt

Ignacio: Sind Sie verrückt?
Pandora: Nein, ich bin Philosophin. Sie wiederum scheinen gänzlich der Realität entsprungen zu sein und zwar der allgemeinen und nicht nur der meinigen. Sicherlich kitzelte der köstliche Roastbeefgeruch in Ihrer Nase, aber ich muss Sie enttäuschen. Die Sache ist gegessen. Mohr im Hemd gibt es auch nicht mehr.

(Pandora stopft sich den restlichen Mohr im Hemd in den Mund.)

Ignacio: Ich wollte nur nach dem Weg fragen und nachdem Sie nicht geantwortet haben, zumindest haben Sie nicht mir geantwortet, habe ich mich etwas gesorgt. Nicht jeder wird damit fertig. Geht es Ihnen wirklich gut?
Pandora: Warum sollte es mir schlecht gehen? Ich habe gerade vorzüglich gespeist – das Roastbeef hätte meine Haushälterin nicht besser zubereiten können – und nun mahnt mein voller Bauch, dass es Zeit für eine verdiente Ruhepause ist. Dieser Genuss zu diesen Klängen Verdis. War jemand jemals unter diesen Umständen wirklich unglücklich, sodass man hätte sagen können, es ginge ihm schlecht? Ein tollkühner Gedanke! Ich habe nie etwas Derartiges gehört und bezweifle, dass das überhaupt möglich wäre.
Ignacio: Aber die Evakuierung. Mir scheint, Sie wurden noch gar nicht informiert. Wie sage ich das jetzt? Ich kann es doch nicht so einfach aussprechen, aber irgendwie aussprechen muss ich es ja doch, denn sonst erfahren Sie es nie. Vielleicht sollte ich es schwierig erklären? Ach, was soll’s, die Wahrheit hat sowieso nicht mehr die Zeit, jemanden umzubringen. Der Vulkan-
Pandora: Der Vulkan, der Vulkan. Es langweilt mich. Das Ganze gleicht einer schlecht inszenierten Tragödie: Der Berg speit weder Feuer noch Schwefel. Er raucht nicht einmal. Und wo bleiben die zarten, hübschen Jungfrauen, die mit Tränen in den Augen ellenlange Monologe rezitieren? Ich bin enttäuscht. Endlich findet ein Unglück von wahrhaft epischer Form statt und dann denkt es nicht einmal daran, sich an die Konventionen der klassischen Tragödie zu halten. Das ist noch schlimmer als die unerträgliche Hamletaufführung an der örtlichen Schule und das heißt, dass quasi ein Superlativ übertroffen wird.
Ignacio: Das hier ist kein Theaterstück. Es geht um Leben und Tod.
Pandora: Sagen Sie bloß, dass Sie noch in einem Theater waren? Bei einer Tragödie geht immer um Leben und Tod; meistens geht es sogar um mehr Tod als Leben.
Ignacio: Aber wenn jemand im Theater stirbt, ist er nicht wirklich tot. Das hier ist die Realität. Wer tot ist, bleibt tot. Bitte, bringen Sie sich in Sicherheit, bevor es zu spät ist. Sie haben nur dieses Leben.
Pandora: Es liegt mir fern, Sie zu desillusionieren, denn desillusionierte Personen sind fürchterlich anstrengend, aber ich habe nicht den Eindruck, dass Sie sich selbst in Sicherheit bringen. Zumindest meinem Bild einer idealen Flucht entspricht es nicht, dass man per pedes durch den Wald wandelt, ohne Kenntnis des eigenen Standortes und ohne vernünftiges Ziel. Verzeihen Sie mir – ich bin versucht von Vernunft zu sprechen – meine Ehrlichkeit, aber Sicherheit ist ein sehr vager Begriff. Sie können nicht einmal sicher sein, dass Sie sicher sind. Es handelt sich hierbei sogar um ein erkenntnistheoretisches Problem. Wir wissen nicht, dass wir wissen, wenn wir wissen. Wahrhaftig horizonterweiternd wird diese Sentenz aber erst, wenn man ihren propositionalen Gehalt durch lateinische Wörter expressiert. Nescimus nos scire, si-
Ignacio: Es reicht, wenn Sie sterben möchten. Das ist Ihre Sache. Sagen Sie mir einfach, wo ich bin. Nein, behalten Sie es besser für sich, bevor Sie mir irgendeinen Blödsinn erzählen. Ich werde den Weg zur Sicherheit schon finden. (Ignacio will weggehen, sieht aber Pandoras Mobiltelephon.) Ist das ein Handy?
Pandora: Mir ist nicht genau ersichtlich, was Sie meinen, aber falls Sie mich auf mein Mobiltelephon ansprechen, so stimme ich Ihnen zu, es handelt sich hierbei um ein Mobiltelephon. Sollten Sie aber aus irgendeinem wunderlichen Grund, den leeren Teller meinen, der neben meinem Mobiltelephon liegt, so muss ich Sie enttäuschen, es handelt sich hierbei um einen Teller.
Ignacio: Kann ich es benutzen?
Pandora: Ich habe mehr als genug saubere Teller in meinem Haus, aber falls Sie insistieren, können Sie auch den schmutzigen verwenden. Es erscheint mir etwas unschicklich, aber ich werde einem Mann nicht seinen möglicherweise letzten Wunsch verwehren.
Ignacio: Kann ich das Handy benutzen?
Pandora: Selbstverständlich, aber gestatten Sie mir die Frage, warum Sie keines bei sich tragen. In einem Land, in dem die Menschen ein Mobiltelephon als eine Krankenversicherung besitzen, erscheint mir das doch sonderbar. Sind Sie wirklich einer der wenigen Mitbürger, die ihre Prioritäten nach vernünftigen Kriterien auswählen?
Ignacio: Meine Frau. Das ist eine lange Geschichte.
Pandora: Das sagen die meisten Männer.
Ignacio: Ich möchte einfach meine Tochter anrufen und ihr sagen, dass ich sie liebe. Mehr will ich nicht. Sobald das erledigt ist, verschwinde ich in Richtung Sicherheit.
Pandora: Nur die Nummer eintippen.

(Pandora steht auf, reicht Ignacio das Mobiltelephon und stellt sich zu einem kleinen Tisch, auf dem einige Flaschen stehen. Ignacio tippt die Nummer ein.)

Ignacio: Das Netz ist überlastet.
Pandora: Damit habe ich gerechnet. Tausende Verzweifelte, die ihr Telefon anschreien. Das war übrigens keine Spitze gegen Sie.
Ignacio: Warum geben Sie mir das Mobiltelephon, wenn Sie damit rechnen, dass ich nicht durchkomme. Macht es Ihnen etwa Spaß, mich leiden zu sehen?
Pandora: Es hatte den Charakter einer Vermutung. Ich nahm nur an, dass die Menschen im Angesicht des Todes als letzte Tat, den Äther mit ihrem Kitsch verstopfen. Ich war ja nicht überzeugt davon, dass meine Einschätzung der Menschen absolut richtig sei. Derartige Sicherheit genießen nur die Misanthropen.
Ignacio: Wollte Sie vielleicht auch jemanden anrufen?
Pandora: Wie kommen Sie auf diesen ridikülen Gedanken? Wen sollte ich anrufen? Sollte ich sterben, so gibt es nicht einen Grund Termine zu arrangieren, denn an meiner eigenen Beerdigung liegt mir nichts. Sollte ich überleben, so hätte es keinen Sinn gehabt, letzte Worte auszusprechen und tiefste Geheimnisse zu offenbaren. So aber erhalte ich, ohne einen Anruf getätigt zu haben, die einzigen Grabbeigaben, die ich mir wünsche, nämlich meine geliebten Heimlichkeiten.
Ignacio: Was mache ich jetzt? Ich muss meiner Tochter sagen, dass ich sie liebe.
Pandora: Sie können nur warten und hoffen, dass Sie später durchkommen.
Ignacio: Warten. Hoffentlich ist es kein Warten auf den Tod.
Pandora: Was trinken Sie?
Ignacio: Ich trinke nichts.

(Pandora gießt etwas Rum in ein Glas.)

Pandora: Die Zivilisation geht vor die Hunde. Jetzt wird sogar der Rum verschmäht.
Ignacio: Ich glaube nicht, dass Trinken meine Probleme löst. Vielmehr ist das Lösen von Problemen meine Lösung.
Pandora: Bilden Sie sich nicht zu viel auf ihre großartige Weisheit ein. Auch Schimpansen können Probleme lösen. Sie lösen sie oder sie lösen sie nicht. Aber wir Menschen können Probleme verdrängen; sie verschieben; durch Alkohol konservieren, sodass sie noch in unseren Köpfen sind, wenn die Realität sich längst verändert hat. Aber einige Wenige sind in der Lage aus diesen Problemen große Kunst zu schaffen.
Ignacio: Ich glaube ich versuche es noch einmal. Das Netz ist immer noch überlastet.
Pandora: Warten. Sie können nur warten.

Dritte Szene

(Ignacio wirft das Mobiltelephon in den Sand. „La donna e mobile“ aus Verdis Oper „Rigoletto“ ist zu hören.)

Ignacio: Überlastet. Das Netz ist überlastet und das seit einer halben Stunde. Ich brauche nur einen Anruf. Ein paar Minuten; mehr nicht. Warum muss das verdammte Netz gerade jetzt überlastet sein? Es hat keinen Sinn. Ich werde nie durchkommen; nie mehr werde ich meiner kleinen Paminita sagen können, dass ich sie liebe. Mein letzter Wunsch bleibt mir verwehrt. Es ist vorbei. Mein Haus habe ich verloren, meine Frau hat mich verlassen und nun kann ich nicht einmal dem Licht meines Lebens sagen, dass ich sie liebe. Ich war schon vorher zum Sterben verdammt, aber dieser qualvolle Verlust ist wohl der Lohn meiner harten Arbeit. Danke. Muchas gracias, dios! Ich kann nicht einmal Paz anrufen, um ihr zu sagen, dass sie sich wie ein Miststück verhalten hat, als sie ohne mich geflohen ist. Ungerechtigkeit ist der Dank der Welt.
Pandora: Ich nehme an, Paz ist – Verzeihung mein Fehler – war Ihre werte Gattin.
Ignacio: Sie haben Recht. Sie war es. Sie war mein Leben. Ein Blick in ihre Augen und mein Leid war vergessen. Das ist aber alles nichts mehr Wert. Das ist nicht mehr von Bedeutung. Sie hat mich verlassen. Sie hat mich zurückgelassen. Sie hat unsere Liebe verlassen. Es ist, als hätte es die Jahrzehnte glücklicher Ehe nie gegeben.
Pandora: Bereuen Sie es denn, Paz geheiratet zu haben?
Ignacio: Ja. Nein. Vielleicht? Was weiß ich? Ich hätte auch nie gedacht, dass sie mich zurücklässt. Wozu ist das überhaupt von Bedeutung? Soll ich ihr vielleicht verzeihen? Soll ich sie von ihrer Last befreien, damit es ihr gut geht, nachdem sie mich verlassen hat?
Pandora: Überlassen Sie das Philosophieren einer Person, die darin ausgebildet wurde, nämlich mir. Hören Sie mir zur! Vergessen Sie die – das wollte ich schon immer einmal sagen – scheiß Ethik und fragen Sie sich einfach, ob die Ehe mit – jetzt habe ich und das ist mir peinlich, denn Namen ihrer Frau vergessen – Ihrer Frau ein Fehler war. Glückliche Jahre sind keine verlorenen Jahre.
Ignacio: Nein, es war kein Fehler. Es waren glückliche Jahre. Welche Rolle spielt das jetzt? Sie sind vorbei. Paz ist geflohen. Die Liebe ist verschwunden.
Pandora: Ihre Liebe ist nicht verschwunden, denn sonst würden Sie nicht so trauern. Aber Sie trauern nicht um Ihre Liebe, sondern um die Liebe allgemein, denn eine Illusion ist zerbrochen. Die Menschen glauben, dass die wahre Liebe eine Liebe sei, die keine Antwort erwarte und gänzlich ohne Eigennutz sei. Sie aber haben erfahren, dass Liebe erst dann befriedigend ist, wenn man auch geliebt wird. Wir lieben und wir lieben es, geliebt zu werden.
Ignacio: Sie wollen also sagen, dass ich nicht meine Frau, sondern nur ihre Liebe vermisse.
Pandora: Ein Mann, der einer Frau verfiel, die ihn nur demütigte, und der daher Trost im Whisky suche, hat mir einmal anvertraut: Die unerfüllte Liebe ist wie ein guter Whisky. Wenn man sie von Zeit zu Zeit in kleinen Mengen genießt, so gibt es kein himmlischeres Gefühl; doch wer ständig von ihr leben muss, geht daran zu Grunde. Ich kann nicht über unerfüllte Liebe sprechen, aber zumindest bin ich in der Lage die Folgen des Whiskys zu verifizieren. Spätestens nach dem fünften Glas ist die Zunge taub und der Rachen brennt. Das Trinken wird zur Qual.
Ignacio: Das ist nicht sonderlich aufbauend. Sie haben zu mir gesagt, dass glückliche Jahre keine verschwendeten Jahre seien. Nun wollen Sie aber anscheinend den Rest meines Lebens verschwenden, indem Sie mir erzählen, dass ich nicht meine Frau, sondern nur meine Liebe zu ihr vermisse. Noch dazu soll mich dieser Verlust auch noch zu Grunde richten. Kurzum: Die Vulkanologen prophezeien einen Ausbruch, aber Sie sind nicht so gnädig und prophezeien den Zusammenbruch meines Glücks. Ich habe zwar weder von Ästhetik noch von Kunst viel Ahnung, aber schön ist das nicht.
Pandora: Kritisieren Sie nicht meine Worte, sondern Ihre Illusionen, deren Zusammenbruch in Ihren Augen eine Ruine hinterlässt. Mit dem Wahn sollten nur diejenigen kokettieren, die auch in der Lage sind, ihn als Trugbild zu entlarven. Aber Sie konnten anscheinend die Pluralität der Welten nicht erkennen und stehen jetzt vor der leeren Wahrheit. Wir lieben keine Personen oder Gegenstände, sondern nur die Gefühle, die sie in uns evozieren. Wir brauchen nicht einmal einen Gegenstand, sondern nur Bewusstsein von einem Gegenstand, um Gefühle zu effizieren. Doch die größte Blasphemie ist die zwischenmenschliche Liebe, denn es ist populärer Irrglaube, dass man durch sie der Einsamkeit unserer solipsistischen Existenz entfliehen könnte. Das sind wahnhafte Narreteien eines feigen Philisters. Als könnten wir uns an unseren eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen.
Ignacio: Kein Wunder, dass es niemanden gibt, denn Sie anrufen wollen oder besser gesagt, der von Ihnen angerufen werden will. Wenn Sie Liebe mit egozentrischem Narzissmus verwechseln, so ist das Ihre Sache, aber ich habe es satt, dass schon wieder eine Person über die Liebe herzieht, obwohl Sie keine Ahnung hat. Über dieses wundervolle Gefühl kann man nur schlecht reden, wenn man es nicht kennt. Sie sind sicherlich irgendeine verbitterte Xanthippe, die noch nie verliebt war.
Pandora: Noch nie verliebt? Humbug! Selbstverständlich habe ich den Nektar der Liebe genossen und vermutlich mehr davon, als Sie je erhaschen werden. Selbstverständlich kenne ich das Gefühl, wenn man plötzlich aus der Welt gerissen wird und die Lippen ein seliges Lächeln formen; wenn das Herz rast und man doch ganz entspannt ist, wenn man von einer unglaublichen Leichtigkeit erfüllt wird und dennoch alles Sinn hat.
Ignacio: Sieh an. Sie haben also doch ein Herz. Wer war dieser Romeo?
Pandora: Also es war ein kühler Dezemberabend in meinem ersten Jahr als Studentin in Wien. Nach langem Anstehen hatte ich eine Stehplatzkarte für die Vorstellung von Mozarts „Don Giovanni“ in der Wiener Staatsoper erworben und während ich die eleganten Besucher in ihren festlichen Roben beobachtete, wie sie die Festtreppe nach oben zu den Logen schritten, die damals für mich als arme Studentin unerschwinglich waren, erfasste mich eine fast schon ridiküle Vorfreude, doch wirklich ridikül war sie nur im Vergleich zur Euphorie, die wenige Minuten später von mir Besitz ergreifen sollte. Nichts ahnend ging ich zu meinem Stehplatz und blickte auf die Bühne. Das Licht im Zuschauerraum erlosch und das Rauschen, das ein Resultat der zahlreichen Gespräche unter den Besuchern war, verstummte. Für einen Augenblick war es so still, als gäbe es keine Luft mehr, die dem Schall als Medium dienen könnte, dann wurde diese Stille von einem satten D-Moll-Ton überrollt und meine Augen füllten sich mit Tränen. Sofort hatte ich erkannt, dass die Oper immer einen Platz in meinem Herzen haben wird.

Liebe auf den ersten Blick

Ignacio: Ihr großer Liebhaber ist also die Oper? Kein Wunder, dass Sie keine Ahnung von Liebe haben.
Pandora: Meine große Liebe ist die Schönheit und die Musik der Oper ist nun einmal schön. Wenn Sie so gütig wären und für einige Augenblicke schweigen könnten, dann würden Sie sie hören. Nach all den Jahren lausche ich immer noch ihrem Klang. Ihre Frau aber hat Sie – wenn ich mich recht erinnere – verlassen.
Ignacio: Das ist keine echte Liebe. Das ist Selbstbetrug. Das ist Perversion. Wie kann man bloß die Schönheit lieben? Erzählen Sie mir von romantischen Strandspaziergängen. Erzählen Sie mir von intimen Stunden trauter Zweisamkeit. Wenn Sie doch nur über Erfahrungen berichten könnten, aber Sie lieben etwas, das zu keinen Gefühlen fähig ist, nämlich die Schönheit. Warum nicht gleich einen Tisch oder Adolf Hitler. Ersteren können Sie sogar umarmen und letzter hätte Ihr Herz wenigstens im Ofen zum Glühen gebracht.
Pandora: Zuerst wollten Sie meinen Worten keinen Glauben schenken und nun sagen Sie es selbst. Eine Liebe, die nicht erwidert wird, ist keine echte Liebe. Ihr Fehler ist aber zu urteilen, dass meine Liebe zur Schönheit nicht erwidert wird. Selbstverständlich erhalte ich etwas zurück, denn sonst wäre diese Liaison ohne Wert. Ich erhalte nur eben keine Liebe, doch davon habe ich selbst genug, stattdessen ermöglicht mir die Schönheit Unsterblichkeit und Freiheit. Sie erlöst mich von der Knechtschaft des menschlichen Daseins. In ihren Armen verliert die Zeit die Bedeutung und die Angst verschwindet. Durch die Schönheit bin ich keine verlorene Kreatur im leeren Raum. Ich fürchte die Sinnlosigkeit nicht mehr.
Ignacio: Und anscheinend haben Sie auch keine Angst mehr vor der Heuchelei. Wenn es um die Zuneigung geht, die ich gegenüber meiner Tochter und meiner Frau empfinde, ist die Liebe böse und eine egoistische Kopfgeburt, die in irgendwelchen narzisstischen Trieben wurzelt, aber wenn es um Ihre kranke Liebe zu einem abstrakten Begriff geht, ist plötzlich wieder alles in Ordnung und nie gab es ein schöneres Gefühl.
Pandora: Sie verkennen meine Worte. Sie wollen ihren propositionalen Gehalt nicht hören und bekämpfen sogar die Begriffe, die ihn kleiden. Ich habe die Liebe von ihrem metaphysischen Thron gerissen und dadurch wieder unter die Menschen gebracht. Sie ist dadurch kein hohlgeistiger, quasi-göttlicher Begriff mehr, sondern so menschlich wie die Menschen selbst. Ich habe der Liebe Leben eingehaucht. Auch meine Liebe zur Schönheit ist nur eine Liebe, die in meinem Kopf existiert, die keinen Anspruch auf ethische Superiorität besitzt. Die Schönheit selbst ist kein metaphysisches Konstrukt – ich muss mir keine Götzen schaffen. Ich habe die Sinnlosigkeit erblickt und überlebt – sondern nur die Allegorie des Schönen, das bestimmte Dinge in mir evoziert. Es ändert nichts an meiner Einsamkeit. Es ändert nichts daran, dass ich in meinem Bewusstsein gefangen bin, aber die Schönheit schiebt den Horizont meines Gefängnisses in die Unendlichkeit und gestattet mir für einen Moment die Illusion, dass ich göttlichen Charakter habe. Der Lebenssinn ist etwas Menschliches. Die Götter leben in der Sinnlosigkeit.
Ignacio: Ich habe zwar nur die Hälfte von dem verstanden, was Sie gesagt haben, aber ich glaube, das ist auch gut so, denn wenn jeder so denken würde wie Sie, wäre die Menschheit längst Geschichte. Man stelle sich das vor: Der eine heiratet die Gerechtigkeit. Ein zweiter hat eine Affäre mit der Wahrheit und ein dritter ist zu hässlich um einen tollen, abstrakten, philosophischen Begriff abzubekommen und muss deshalb mit der Inkontinenz leben. All das inspiriert durch die Ihre beispiellose Liebe zur Schönheit, die wohl das Ergebnis der Liebe zur Weisheit und die Vorstufe der Liebe zum Wahnsinn ist. Ich kann nur darauf warten, dass Hollywood eine Tragödie daraus macht.
Pandora: Meinen Sie so etwas wie „Liebe in Zeiten des radikalen Nominalismus“?. Da muss ich Sie enttäuschen, denn es ist nämlich nicht meine Vergötterung der Schönheit, sondern Ihre Engstirnigkeit, die solch idiotische Szenarien hervorbringt. Wie alle monogamen Ehemasochisten glauben Sie, dass Ihre innerpartnerschaftliche Liebe, die einzig legitime sei, aber die Liebe kennt die verschiedensten Spielarten und eine davon ist die Liebe zur Schönheit. Man darf aber nicht vergessen, dass die ästhetische Erfahrung zwar die höchste Erfahrung ist, aber nicht zu den Grundbefindlichkeiten des Menschen zählt. Immerhin verhungern die kleinen Kinder in Afrika, weil ihnen das Essen fehlt und nicht weil die Landschaft so hässlich wäre. Es ist wahr, Bildung kann man nicht fressen. Selbiges gilt für die Kunst, wenn man von einigen Werken dem modernen Avantgarde sowie der Kunst des Kochens absieht. Lassen Sie sich nicht durch die Begriffe täuschen. Vergessen Sie die metaphysische Tradition des Abendlandes. Wir sehen das Schöne in den Dingen. Ich sehe das Schöne in der bildenden Kunst, höre das Schöne in der Musik. Selbst in den trivialsten Dingen wie meinem Automobil nehme ich die Schönheit wahr. Durch die Gegenstände finde ich zu ihr, die keine – da nur meine – Göttin ist, denn sie existiert nur, weil ich ihr Wesen in den Dingen erkenne. Sie lieben Ihre Frau – Nun gut, das scheint mir kein gutes Beispiel mehr zu sein. Sie lieben Ihre Tochter und können Eigenschaften wie Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit oder Fleiß nennen, die sie an ihr schätzen. In Wahrheit ist es aber so, dass Sie die Gerechtigkeit und die Aufrichtigkeit lieben, die Sie an Ihrer Tochter erkennen können. Deshalb ist unerfüllte Liebe so schmerzhaft. Man glaubt geschätzte Eigenschaften erkennen zu können, kommt jedoch nie in ihren Genuss.
Ignacio: Sie haben ein Auto? Ist dieses Auto dort hinten Ihres?
Pandora: Selbstverständlich bin ich im Besitz eines Automobils, denn das Einzige, von dem in diesem Land noch mehr Gefahr ausgeht als von kriminellen Banden, sind Busse. Dass die Dinger noch fahren, ist für mich der einzige Gottesbeweis, den ich noch irgendwie akzeptieren könnte. Überzeugender als die Hirngespinste der mittelalterlichen Scholastik ist der alle mal.
Ignacio: Und jetzt sagen Sie mir bitte nicht, dass das Auto auch noch fahrtüchtig ist.
Pandora: Natürlich ist es fahrtüchtig. Ich lasse es sogar jedes halbe Jahr überprüfen, damit ich ja nicht irgendwo in der Pampa eine Panne habe. Der Einzige, der dann kommen würde, um mich zu holen, wäre der Tod.
Ignacio: Sie haben also ein fahrtüchtiges Fahrzeug, das Sie nicht benutzen.
Pandora: Ich denke, dass wir uns ausreichend damit beschäftigt haben. Bei diesem Gespräch geht es um das Wesen der Liebe und nicht um mein Automobil. Auf jeden Fall ist es so, dass Sie die Schönheit – auf eine nicht sexuelle Weise – an Ihrer Tochter sehen, dass Sie diese Eigenschaft – ich wiederhole, auf nicht sexuelle Weise – an ihr schätzen. Sie haben also schon die Liebe zur Schönheit erfahren. Nun ist es an der Zeit die Früchte-
Ignacio: Warum in aller Welt sind Sie nicht geflohen, wenn Sie ein fahrtüchtiges Auto haben? Sie hätten einfach einsteigen und losfahren können, doch stattdessen sitzen Sie hier und philosophieren. Sie könnten überall sein, aber Sie sind hier. Hier!
Pandora: Lösen Sie sich von der Hoffnung. Sie hat ihren Preis. Wohin hätte ich fahren sollen? Was hätte ich dort gemacht? Wäre ich überhaupt angekommen? In Zeiten wie diesen ist jeder mit einem Automobil ein Freiwild. Sie warten nur darauf, dass ein unbewaffneter Idiot alleine und ohne Ziel losfährt. Und Ziel hätte ich wirklich keines gehabt. Da es nicht ausreicht, das Opfer politischer Idiotie zu sein, um als politisch verfolgt zu gelten, wäre mir in der europäischen Union kein Asyl gewährt worden, aber in diesem Land zu bleiben und abhängig von einem Staat zu sein, der auch ohne Krise nicht in der Lage ist, die Armen zu versorgen, stellte auch keine Option für mich dar. Ich bin nicht in den Theatern Europas gesessen, um mir mein Essen aus Mistkübeln zu fischen. Ich schlafe nicht auf weißen Laken, um meine letzte Nacht auf blankem Beton zu verbringen. Ich habe nicht die Schönheit geschaut, um in der Gosse zu verrecken. Ein unerfülltes Leben ist es nicht wert, gelebt zu werden. Ich habe mich schon etschieden. Nun stellt sich mir die Frage, wäre ein Leben im Elend für Sie ein erfülltes Leben? Lassen Sie sich bei Ihrem Entschluss aber nicht durch die Hoffnung täuschen. Nehmen Sie keinen Kredit auf, dessen Preis Sie am Ende Ihres Lebens zahlen müssen. Ihre Ehe ist zerstört, Ihre Existenz vernichtet und Ihre Tochter werden Sie nie wieder sehen, unbedeutend ob Sie hier stehen und sterben oder zwanzig Jahre in den Armenvierteln von Maracaibo verbringen und dort sterben. Seien Sie vernünftig und genießen Sie etwas, das Sie schon an Ihrem Umfeld genossen haben, nämlich die Schönheit. Ich mag mit meinen Prinzipien fallen, aber Sie werden durch Ihre falsche Hoffnung Höllenquallen leiden.

(Ignacio überlegt einige Zeit.)

Ignacio: Haben Sie Bier?
Pandora: Wie bitte?
Ignacio: Ich habe gefragt, ob Sie Bier haben?
Pandora: Ja, im Kühlschrank müsste welches sein. Warum wollen Sie jetzt plötzlich ein Bier?
Ignacio: Sie haben mir etwas zu trinken angeboten und da ich hier bleiben werde, dachte ich mir, dass ein Bier nicht schaden kann.
Pandora: Hier bleiben? Ich habe Sie nicht eingeladen.
Ignacio: Dann habe ich es wohl gerade selbst getan. Aber was erwarteten Sie sich? Sie taten so als gäbe es entweder diesen Strand, oder die Armenviertel Maracaibos also habe ich mich für den Strand entschieden.
Pandora: Touché.
Ignacio: Da das geklärt ist, ist es an der Zeit, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Ignacio Mundí.
Pandora: Erfreut. Nomen mihi Pandora est.
Ignacio: Das ist aber sicherlich nicht Ihr Taufname.
Pandora: Doch, er ist es. Mein Vater war Professor für klassische Philologie in Caracas.
Ignacio: Nachdem wir uns jetzt so gut kennen, können wir uns eigentlich auch duzen.
Pandora: Ist das wirklich notwendig?
Ignacio: Wir sind hier nicht Europa, sondern am Strand. Hier ist alles etwas lockerer.
Pandora: Wenn du insistierst.
Ignacio: Das tue ich. Wo ist der Kühlschrank.

(Ignacio steht auf und verschwindet in der Hütte.)

Vierter Akt

Erste Szene

(Ignacio und Pandora sitzen am Strand.)

Pandora: Ist dieser Bart eigentlich das Ergebnis einer verunglückten Rasur oder handelt es sich bei diesem bizarren Haarwuchs nur um eine grausame Laune der Natur.
Ignacio: Irgendwie beides. Nach dem Aufruf zur Evakuierung hat sich mein Barbier eingebildet, dass keine Zeit mehr für die Rasur wäre. Also ist er einfach verschwunden und zum Bus gelaufen.
Pandora: Ich komme nicht daran vorbei, ihm Recht zu geben. Immerhin sitzt du jetzt hier und nicht im Bus.
Ignacio: Er hätte wenigstens das Messer absetzen können. So habe ich aber einen Schnitt statt einer Rasur bekommen.

(Mutter auf. Sie schiebt einen Kinderwagen, in dem sich ein Säugling befindet.)

Mutter: Ich bin nur eine Mutter mit ihrem Kind. Bitte tun Sie mir nichts. Ich bin unbewaffnet.
Pandora: Wenn sich in diesem Kinderwagen, wirklich ein Säugling befindet, habe ich meine Zweifel. Dessen Geschrei kann wahre Höllenqualen auslösen.
Mutter: Es tut mir leid. Sie müssen mir helfen. Ich bin verzweifelt. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Als der Soldat gesagt hat, dass wir uns in Sicherheit bringen wollen, ist alles in sich zusammengebrochen. Anfangs hat mein Freund mir noch geholfen das Wichtigste einzupacken. Doch dann sagt er zu mir, dass ein Leben ohne Spielekonsole sinnlos wäre und er bei ihr bleibt. Ich habe ihm versucht diesen Blödsinn auszureden, aber er wollte nicht gehen. Er begann zu schreien. Der Kleine begann zu schreien. Es wurde mir zu viel. Ich habe einfach den Kinderwagen geschnappt und bin verschwunden. Ich weiß nicht, was ich tun soll?
Pandora: Was trinken Sie?
Mutter: Ich brauche keinen Alkohol. Ich brauche Hilfe.
Pandora: Was ist aus der Welt geworden? Kaum bricht einmal ein Vulkan aus, werden alle sozialen Gepflogenheiten über Bord geworden. Nur weil sich eine Naturkatastrophe anbahnt, heißt das noch lange nicht, dass man kein Glas Rum genießen kann. Was nützt es einem schon, dass man sein Leben rettet, wenn man dabei die Kultur liquidiert?
Ignacio: Ignorieren Sie sie einfach; sie ist Philosophin. Selbstverständlich werden wir versuchen Ihnen zu helfen. Mir ist nur nicht ganz klar, wie wir das machen sollen. Haben Sie irgendwo Verwandte oder Freunde, bei denen Sie unterkommen könnten?
Mutter: Meine Mutter wohnt circa zwei Stunden entfernt. Außerdem habe ich noch eine Tante und zwei Cousins, die im Umland von Barquisimeto leben und zwei gute Freundinnen, die-
Pandora: Was willst du damit sagen, dass sie mich ignorieren soll?
Ignacio: Das heißt, dass du nicht gerade hilfreich bist.
Pandora: Selbstverständlich bin ich nicht hilfreich. Ich bin ja kein Zeugs, das zuhanden ist, sondern ein der Welt seiendes Subjekt.
Ignacio: Was zur Hölle meinst du damit?
Pandora: Wenn du nicht einmal Ahnung von den Grundzügen der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers hast, bist auch nicht gerade hilfreich.
Ignacio: Siehst du? Das ist es! Das habe ich gemeint, als ich sagte, dass du nicht hilfreich bist. Die junge Frau braucht Hilfe und kein nutzloses Geschwafel über Ästhetik.
Pandora: Nutzlos? Was ist das für eine Kategorie? Ich bin mir darüber im Klaren, dass es sich um eine rhetorische Frage meinerseits handelte, nehme mir aber trotzdem die Freiheit sie zu beantworten. Es ist keine Kategorie, sondern die Wurzel des Bösen. Leute, die diese Kategorie verwenden, vertreten das Primat der Zweckrationalität für das menschliche Denken. Doch dieser Weg führt in die Mediokrität des Daseins, in der einzig und allein die Eintönigkeit des Alltags herausragend ist, sodass dieses Prinzip in masochistischer Gier auf alle Bereiche ihrer Existenz angewendet wird und die Schreckensgeburt einer trivial-utilitaristischen Ethik hervorbringt.
Ignacio: Du hast Recht. Nein, warte du hast nicht Recht. Woher soll ich das wissen? Ich habe keine Ahnung, was du mir damit sagen wolltest und es ist mir auch egal. Die junge Frau braucht Hilfe und die sollten wir ihr geben.
Mutter: Es tut mir leid, falls ich einen Streit ausgelöst habe. Es ist nicht meine Absicht gewesen, aber Sie müssen mir helfen. Ich weiß, dass es viel verlangt ist. Ich weiß, dass Sie nicht hier wären, wenn Sie die Möglichkeit zur Flucht gehabt hätten, aber schon ein paar Lebensmittel, eine Karte oder so etwas würde mir helfen.
Pandora: Natürlich können wir Ihnen so etwas anbieten. Verzeihen Sie meine Verwirrung, aber Sie sagten doch, dass Sie nichts zu trinken wünschen. Es wirkt, als wären Ihre Bedürfnisse nicht kongruent. Das ist keine Tragödie, nicht einmal das Geschreibsel eines unfähigen Jungautors, sondern nur menschlich. Dennoch – und das haben schon einige bedeutende Philosophen erkannt – behindert diese Eigenart der Wünsche das praktische Schließen. Ipso facto ist mir nicht ganz klar, was Sie wollen.
Mutter: Und mir ist nicht ganz klar, was Sie meinen.
Pandora: Wünschen Sie nun ein Glas Rum oder nicht? Die Frage nach dem Eis stellt sich bei der Qualität des Getränkes natürlich nicht.

Bühnenbildskizze:Rum (Ron Diplomatico)

Ignacio: Pandora, die junge Frau will keine Spirituosen, sondern einfach nur Wasser und etwas zu essen.
Pandora: Woher soll ich das wissen? In meiner Studentenzeit habe ich wochenlang Kartoffeln und Kukuruz gegessen, um mir eine Flasche Rum leisten zu können, aber wenn die Dame es wünscht, werde ich mich danach richten. Eigentlich wollte ich das Abendessen erst in einigen Stunden zu bereiten, aber wenn die Dame insistiert, kann ich jetzt ein paar Scheiben Brot und etwas Wurst servieren.
Mutter: Machen Sie sich keine Mühe. Geben Sie mir einfach das Brot, die Wurst und das Wasser. Das kann ich dann alles in den Kinderwagen legen und dann bin ich schon weg. Ich will keine Umstände bereiten.
Pandora: Weder mir noch ihrem Verstand wie es scheint. Es liegt mir fern wildfremde Menschen zu desillusionieren, denn dieser Bruch geht immer mit dem Aufflammen existenzieller Angst einher und Menschen, die Angst haben, sind schrecklich anstrengend. Außerdem benötigen wir alle unsere Lebenslügen, mit denen wir die Unverhüllte bekleiden, damit wir ihren furchtbaren Anblick ertragen können. Diese Lügen sind in der Regel jedoch Illusionen; kleine kosmetische Veränderungen an der Realität, deren Künstlichkeit wir zwar erkennen, aber negieren. Sie, meine Liebe, schöpfen Ihre Lebenslügen wiederum aus der Hoffnung, wodurch Sie sich die Realität nicht wohnlich flunkern, sondern erwarten, dass diese wirklich wohnlich, warum und herzlich wird. Diese Naivität wird Ihnen das Rückgrat brechen, sodass Sie nicht einmal mehr nach den tiefsten Trauben greifen können. Glauben Sie wirklich, dass eine Karte und etwas Wurst Sie bis nach Barquisimeto bringen? Glauben Sie wirklich, dass ein Kinderwagen und Ihr unterwürfiges Lächeln Sie diese hunderte Kilometer beschützen? Glauben Sie wirklich, dass Ihre dämliche Hoffnung Sie vor der Grausamkeit des Daseins erretten kann? Wenn Sie davon überzeugt sind, dann gebe ich Ihnen die Lebensmittel und dann sind Sie frei zu gehen. Doch bevor Sie den ersten Fuß auf Ihre persönliche Via Dolorosa setzen, vergessen Sie nicht sich umzudrehen und einen Blick auf eine echte Lebenslüge zu werfen; bestaunen Sie die Bühne der Untoten, das Paradies der Todgeweihten.
Ignacio: Bei Gott, Pandora, was ist dein Problem? Das einzige, das diese junge Frau noch hat, ist ihre Hoffnung und du willst ihr auch das noch nehmen. Wir sind nicht im Theater. Der Strand ist kein Museum und die Oper hat nichts mit dem richtigen Leben zu tun. Diese Frau ist verzweifelt und glaubt vielleicht noch etwas von dem Blödsinn, denn du von dir gibst.
Pandora: Humbug! Es gibt nur wenige Dinge auf Erden, die das Leben einer Frau so gut beschreiben wie eine tragische Oper. Beides dreht sich um Selbstzweifel, mediokre Liebebeziehungen und den Tod. Betrachte den Leidensweg unserer jungen Besucherin. Ihr Freund hat sie im Stich gelassen und nun zweifelt sie an sich, ob sie in der Lage ist, für ihr Kind zu sorgen. Nachdem wir ihr etwas Essen gegeben haben werden, wird sie verschwinden und innerhalb weniger Tage sterben. Dieses Schicksal hätte genauso gut von Puccini vertont werden können.
Mutter: Was bleibt mir anderes übrig, als zu meinen Verwandten zu gehen. Ich habe keine andere Möglichkeit. Ich bin heute nicht einfach aufgestanden und habe mir gesagt: ‚Fick die Scheiße, ich mach einen Abgang‘, damit ich einen tagelangen Spaziergang machen kann. Nein, vielmehr hat sich der Vulkan gedacht: ‚Fick die Scheiße. Ich breche aus‘ und mein Freund hielt das für den richtigen Zeitpunkt, um mir zu beichten, dass er mich zwar sympathisch findet, seine wahre Liebe aber eine Spielekonsole ist. Es tut mir leid, wenn Sie sich an meinem Unglück stören. Es tut mir leid, wenn Sie meine Hoffnung nicht ertragen können. Geben Sie mir etwas zu essen, die versprochene Karte und dann verschwinde ich. Sie können ja hier bleiben und beim Sterben Ihr kaputtes Auto betrachten.
Pandora: Warum glaubt alle Welt, dass mein Automobil nicht funktionstüchtig sei? Es ist in ausgezeichnetem Zustand und wird jedes halbe Jahr in der Werkstatt gewartet. Wenn Sie mir nicht glauben, zeige ich Ihnen gerne die Belege. Es ist mir unbegreiflich, wie die Menschen zu diesen haarsträubenden Hypothesen gelangen. Nur weil ich mein Automobil nicht ständig nutze, sondern es auch gelegentlich einmal stehen lassen, heißt das noch lange nicht, dass es kaputt ist. Abduktives Schließen kann doch nicht so schwer sein.
Mutter: Dann ist sicherlich der Tank leer.
Pandora: Meine Liebe, glauben Sie wirklich, dass es in Venezuela ein einziges Automobil gibt, dessen Tank leer ist?
Ignacio: Das Auto! Das ist es! Sie nehmen einfach das Auto.
Pandora: Solltest du nicht zufälligerweise ein zweites Automobil zur Verfügung haben, wird unser junger Besuch sicherlich nicht einfach das Auto nehmen. Dieses Meisterwerk italienischer Automobilbaukunst gebe ich nicht her. Nur weil ein Vulkan ausbricht, trenne ich mich sicherlich nicht von ihm. Als nächstes soll ich vermutlich auf meine Zigarren verzichten und irgendwann renne ich nackt durch den Wald und schreie wie ein neurotischer Schimpanse. Die Menschen mögen sich in der Krise der Wurzel ihrer Menschlichkeit entledigen. Ich persönlich bevorzuge es aber, ein Mensch mit Kultur zu sein. Vulkanausbruch hin oder her.
Ignacio: Das Auto könnte aber das Leben der jungen Frau retten. Sei nicht so egoistisch und nutze deinen Verstand, auf den du so stolz bist. Du kannst doch nicht so engstirnig sein.
Pandora: Nur weil Paz dich verlassen hat, heißt das noch lange nicht, dass jede Frau einfach so auf etwas Geliebtes verzichten kann.
Ignacio: Du tust so als wäre dieses Auto dein einziges Kind, das gerade für einen Krieg eingezogen wird, aus dem es nicht mehr zurückkehren wird. Es ist aber nur ein Auto.
Pandora: Es ist mehr als bloß ein Automobil. Es ist ein Symbol. Es ist die Manifestation von Schönheit. Ich trenne mich nicht von dem, was ich liebe.
Mutter: Ich bitte Sie. Ich beschwöre Sie. Ich bettle. Geben Sie mir dieses Auto. Es ist vielleicht meine letzte Chance. Mit Ihrem Wagen kann ich es bis nach Barquisimeto schaffen. Die Hoffnung lebt. Bedenken Sie bitte. Es geht nicht um mich. Es geht um mein kleines Kind. Sie würden das Leben eines Kindes retten.
Pandora: Diese ethische Erhebung hätte natürlich auch große Auswirkungen auf mein Leben, da ich ja vermutlich innerhalb der nächsten Stunden sterben werde. Vielleicht pflanze ich einen Baum oder höre auf meine Achseln zu rasieren, weil ich das Leben eines Kindes gerettet haben werde, dessen Fähigkeiten zur Selbstreflexion kaum vorhanden sind. Ich behalte mein Auto. Sie würden auch nicht ihr Kind einfach so einer wildfremden Person schenken.
Ignacio: Ich kann nur erahnen, wie viele Herzen du gebrochen hast, Pandora, weil du glaubst, die Liebe theoretisieren zu müssen. Ich kann nur mutmaßen, wie viele Männer deinetwegen nachts voller Kummer die Decke angestarrt haben. Aber keiner von ihnen hat dich zähmen können und nun wirfst du diese Freiheit, auf die du offensichtlich so stolz bist, einfach weg, indem du dich von einem Objekt knechten lässt. Was ist aus der Freiheit geworden, die dir die Schönheit schenkt?
Mutter: Ich flehe Sie an. Sie sind meine letzte Hoffnung. Bitte, geben Sie mir die Schlüssel. Sie sind sicherlich eine gute Person. Soll ich ihre Hände küssen? Ich küsse Ihre Hände, Ihre Füße, Ihren Arsch, wenn es sein muss.

(Pandora überlegt. Das Kind fängt an zu schreien.)

Pandora: Nehmen Sie das Auto. Schlüssel sind in der Hütte, die Papiere im Handschuhfach. Hauptsache ich werde das schreiende Kind los. Dieses Geräusch bereitet mir regelrecht körperliche Schmerzen.
Mutter: Danke! Vielen Dank. Gott schütze Sie und Ihre Familie. Danke. Gott schütze Sie. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Pandora: Am besten gar nichts. Wenn Sie mich weiter mit Dank überschütten, glaube ich noch, dass er irgendetwas wert wäre.

(Mutter verschwindet kurz in der Hütte, erscheint wieder und schiebt den Kinderwagen zum Auto.)

Mutter: Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin. Ich verdanke Ihnen mein Leben und kann Ihnen nur meine Dankbarkeit geben. Wie lauten Ihre Namen, dass ich zukünftige Kinder nach Ihnen benennen kann? Das ist die einzige Art der Wertschätzung, die mir jetzt einfällt und die mir angemessen erscheint. Vielen Dank! Danke! Möge Gott Sie schützen.
Ignacio: Es ist selbstverständlich zu helfen. Ich bin Ignacio und sie heißt Pandora.
Pandora: Ite, missa est.

(Mutter steigt ein und fährt los.)

Ignacio: Du erinnerst mich an einen guten Freund meinerseits.
Pandora: Etwa auch ein Kulturliebhaber?
Ignacio: Im Gegenteil. Er sieht in der Kultur die Wurzel allen Übels.
Pandora: Die Gemeinsamkeit mit deinem Freund will sich mir nicht so ganz erschließen.
Ignacio: Ihr beide seid weltfremde Spinner, habt das Herz aber im Endeffekt am rechten Fleck.
Pandora: Ich bin nicht weltfremd. Ich sehe die Dinge nur mit anderen Augen.

Zweite Szene

(Pfarrer auf. Er trägt ein Kruzifix auf seinem Rücken und lehnt dieses gegen einen Baum, nachdem er von Pandora entdeckt wurde.)

Pandora: Toll, ein Pfaffe. Wenn das so weiter geht, schaut noch ein Steuerbeamter vorbei.
Ignacio: Herr Pfarrer!
Pfarrer: Señor Mundí, ich dachte Sie wären tot.
Ignacio: Vielen Dank für Ihr Vertrauen und ich dachte, dass Sie in der Stadt bleiben wollten, da die Menschen in der Not Gott am meisten benötigen.
Pfarrer: Ich sprach von Menschen und nicht von Verrückten. Sie haben es ja selbst gesehen. Die brauchten keinen Pfarrer, sondern einen Psychiater.
Ignacio: Stimmt, ich habe es mit eigenen Augen gesehen, als Sie als Erster in diesen eigenartigen Singsang eingestimmt haben. Damals gab es noch keine Probleme mit den Verrückten. Ich weiß nicht, wie es Ihnen ging, aber zumindest ich hatte den Eindruck, dass diese Frau, die plötzlich aufgetaucht ist, nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte.
Pfarrer: Die Dame sang den Text der Totenmesse. Ich dachte, sie wäre eine gute Christin, die den Niedergang der Welt betrauert. Daher habe ich mitgesungen, um die Frau in dieser schweren Zeit zu unterstützen. Es ging darum, den Menschen zu zeigen, dass Gott immer für sie da ist.
Ignacio: Für mich klang es aber so, als wolle man ganz sicher gehen, dass der Vulkan auch wirklich ausbricht.
Pandora: Das ist nicht weiter überraschend, wenn der lateinische Originaltext intoniert wird, da man sich in der Regel nicht die Mühe gibt, die passende Betonung sowie Aussprache zu beachten. Erschwerend kommt hinzu, dass es ein mittellateinischer Text ist und sich die katholische Kirche sowieso nicht um den Wohlklang der lateinischen Sprache schert. Allein schon die Aussprache des Papstes ist ein überzeugender Grund, aus der Kirche auszutreten, aber ich schweife ab. Eigentlich hatte ich die Intention, Erkundungen einzuholen, weshalb eine Frau, die anscheinend ex nihilo aufgetaucht ist und noch dazu den Text von „Dies Irae“ auswendig wusste, kein Misstrauen hervorruft, aber dann ist mir eingefallen, dass Sie Christ sind und eine creatio ex nihilo für Sie daher kein Problem darstellt. Wenn dieses Prinzip für das Universum funktioniert hat, wird es das sicherlich auch für eine einzelne Frau tun. Erschwerend kommt hinzu, dass Sie als Katholik an die Trinität glauben. Das hat zwar nicht explicit etwas mit aus dem Nichts erscheinenden Damen zu tun, zeugt aber von einem schwierigen Verhältnis zur abendländischen Logik.
Ignacio: Also ich bin bekennender Katholik und habe weder ein Problem mit der Heiligen Dreifaltigkeit noch mit Logik, egal ob abendländisch oder nicht.
Pandora: Wie schon einmal erklärt, wir brauchen alle unsere Lebenslügen. Aber manche Lebenslügen sind – wie soll ich es formulieren – logisch zwingender als andere, wobei mit ‚andere‘ die Heilige Dreifaltigkeit gemeint ist.
Pfarrer: Nur, dass die Lehre unseres Herren Jesus Christus keine Lüge ist, sondern die reine Wahrheit. Geben Sie die Ablehnung auf und schließen Sie Gott in Ihr Herz. Sie werden es nicht bereuen.
Pandora: Ich kann auch den Versuch wagen, meine Ablehnung Kinderschändern gegenüber aufzugeben, damit ich diese ins Herz schließe. Dadurch werden Kinderschänder aber nicht zu besseren Menschen, sondern ich nur zu einer Person, die ohne jeden Grund bösartige Verbrecher mag. Selbiges gilt für Gott. Dadurch, dass ich ihn in mein Herz schließe, wird er nicht wahrer, besser oder weicher. Es bedeutet nur, dass ich etwas akzeptiert habe, gegen das ich vorher Einwände hatte oder cum modo differenti expressiert: Dass ich Gott in mein Herz schließen muss bedeutet, dass er es nicht von selbst dort hineinschafft. So etwas ist ein Armutszeugnis für eine angeblich allmächtige Person. Aber verlassen wir das Feld der theologischen Diskussion. Ich bin ihrer überdrüssig. Stattdessen sollten wir uns der Frage zuwenden, die seit Beginn des Gespräches wie ein gigantischer, pinker Elefant im Raum steht. Warum schleppen Sie ein riesiges Kruzifix mit sich herum?
Pfarrer: Warum nicht?
Pandora: Es gibt zahlreiche Gründe, weshalb man kein kolossales Kruzifix mit sich herumschleppen sollte. Es ist schwer. Es weist spitze Ecken auf. Es wird in einigen Teilen der Welt – zum Beispiel den nordwestlichen Provinzen Pakistans – negativ aufgefasst, aber diesen Argumenten werden Sie keinen Glauben schenken. Sie werden sagen, dass ich von derartigen Dingen nichts verstehe, weil ich mich weigere, die christliche Botschaft zu akzeptieren. Daher sollten wir einfach unseren Vorzeigekatholiken zu Wort kommen lassen. Er fühle sie frei zu sprechen.
Ignacio: Bin ich jetzt gemeint?
Pandora: Wie schon gesagt, Er fühle sich frei zu sprechen.
Ignacio: Das habe ich gehört. Bin ich damit gemeint?
Pandora: Selbstverständlich bist du gemeint. Es wäre im höchsten Maße widersinnig, einen Pfarrer als Vorzeigekatholiken zu bezeichnen.
Ignacio: Also ich habe keine Ahnung, warum er ein Kreuz bei sich hat. Vielleicht ist es ein besonderes Kreuz?
Pandora: Das einzige Außergewöhnliche, das ich erkennen kann, ist seine Mittelmäßigkeit.
Pfarrer: Ich bin nur von verblendeten Narren umgeben, denen der Teufel den Verstand verdreht. Das ist kein gewöhnliches Kreuz. Das ist Gott.
Ignacio: Ja, irgendwie schon, immerhin ist es ein Abbild von Jesus, aber hätten Sie das Kreuz nicht einfach in der Kirche lassen können? Ich bin mir sicher, dass Gott Ihnen das verziehen hätte, denn seine Güte kennt keine Grenzen.
Pfarrer: Narren, alles Narren. Sie sollten Ihre Zunge nicht durch blasphemische Worte beschmutzen. Ich bin ein Mann Gottes. Dieses Kreuz ist Gott, also bin ich auch ein Mann dieses Kreuzes.
Pandora: Diese Aussage ist in so vielen Beziehungen problematisch, dass ich gar nicht weiß, wo ich mit meiner Kritik ansetzen soll. Ich könnte argumentieren, dass die Nichtexistenz Gottes eine vernünftigere Hypothese ist als dessen Existenz – aber da ich diese Worte zu einem katholischen Priester spreche, bedarf es keiner übermenschlichen Auffassungsgabe, um zu erkennen, dass dieser Zug abgefahren ist. Es ließe sich anmerken, dass das göttliche Wesen Jesu auch nicht von allen christlichen Glaubensrichtungen anerkannt wird, aber seien wir ehrlich, Katholiken haben sich nie sonderlich für die Meinung Andersdenkender interessiert, was die Intention meiner letzten Sätze ad absurdum führt, doch zum Glück habe ich noch einen Trumpf im Hut der kontrakruzifikalen Gottesauffassung: Die metaphysischen Eigenschaften eines christlichen Gottes lassen sich nicht auf Materie und deren Wechselwirkung herunterbrechen.
Ignacio: Genau! Ein Kreuz ist ein Kreuz und Gott ist Gott.
Pfarrer: Falsch. Dieses Kreuz ist Gott.
Ignacio: Es ist nur ein Kreuz.
Pfarrer: Nein, ist es nicht. Auf dem Kreuz steht INRI.
Ignacio: Wenn wenigstens Jesus oben stehen würde, könnte ich es mir noch irgendwie einreden lassen. Aber von diesem Inri habe ich noch nie gehört.
Pfarrer: Inri ist Jesus, denn Inri steht für Iesus Nazerus Rex Juidcum. Das ist Latein und bedeutet Jesus von Nazareth König der Juden.
Pandora: Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum. Es heißt Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum.
Pfarrer: Schweigen Sie! Die Flüche einer Hexe prallen von einem Mann Gottes ab. Also Herr Mundí, glauben Sie immer noch, dass das Kreuz nur ein Kreuz ist? Jesus steht oben und Jesus ist drinnen. Akzeptieren Sie die Wahrheit.
Pandora: Für derartige Fälle gäbe es eigentlich das Bilderverbot, aber weshalb sollte man den Inhalt des Buches beachten, auf dem man seinen Glauben errichtet hat?
Pfarrer: Ist das ein goldenes Kalb? Nein, das ist Gott und ich bin sein Prophet. Er hat mich ausgewählt. Er hat mich gerettet. In der größten Not, als ich in der brennenden Kirche gefangen war, sprach er zu mir und sagte, dass er mich vor den Flammen schützen wird. So trug ich ihn auf meinem Rücken; und durch seine Allmacht und unendliche Güte bewahrte er mich vor dem Feuer und ließ das Gebäude erst einstürzen als ich es verlassen hatte.
Ignacio: Also für mich ist das immer noch ein gewöhnliches Holzkreuz.
Pfarrer: Das ist Blasphemie. Das ist Wahnsinn. (Zum Kreuz.). Hast du das gehört, Jesus? Das ist ein Haufen von Idioten. Sie sagen, du wärest ein Holzkreuz. Ich habe so einen Hals. Die können froh sein, dass ich so ein geduldiger Mensch bin, sonst hätten die einen Vulkan und einen Priester an der Gurgel.

(Pfarrer lauscht dem Kreuz.)

Ignacio: Hat er gerade mit dem Kreuz gesprochen?
Pandora: Das ist das Schicksal derer, denen der Zweifel nicht zu gestanden wird. Sie müssen wirklich das glauben, was ihnen der Glaube diktiert.
Ignacio: Aber diese Götzenverehrung ist doch nie im Leben mit der katholischen Lehre vereinbar.
Pandora: Glaubst du, dass es in einer Welt voller Weltverdränger und Selbstbetrüger nur eine Auslegung gibt, die als korrekt interpretiert wird? Suche einen Bibelvers heraus. Der Erste wird dir sagen, dass du alles wörtlich nehmen sollst. Der Zweite wird dir erklären, dass es sich um ein Gleichnis handelt und der Dritte wird dir erläutern, dass der Bibelvers nichts zur Sache tut und deine fleischliche Lust an allem schuld ist.
Pfarrer (Zum Kreuz.): Du hast natürlich Recht, mein Herr. (Pfarrer schultert das Kreuz und geht los.). Ich meine doch nur, dass ein kleiner Klaps auf den Hinterkopf nicht wirklich schadet, so wie damals beim Herrn Bürgermeister, diesem Bolschewisten. (Kurze Pause.). Chicken Nuggets? Woher soll ich jetzt Chicken Nuggets bekommen?

(Pfarrer ab)

Ignacio: Schade, dass er nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. Eigentlich war er ja ein netter Kerl. Vor allem war er keiner von diesen sturen Dogmatikern. Deine Erklärung stimmt also nicht.
Pandora: Kein Zweifel ist echt, wenn er keine Konsequenzen hat. Als Mann Gottes, für den er sich hält, konnte er sich es nicht leisten, seinen Glauben zu verlieren. Jeder Satz, der scheinbar Argwohn ausdrückte, war nicht mehr als Koketterie. Schutz vor denen, die den Zweifel bringen. Handelt es sich bei diesen Boten um Menschen, so relativiert man ihre Argumente oder geht sogar so weit und wendet Gewalt an. Ist es aber ein Vulkan, kann man sich des Problems wohl schwer durch Faustschläge entledigen. Man muss sich die Realität schön lügen, zum Beispiel, indem man ein gewöhnliches Kruzifix zur einzig wahren Gottheit erhebt-

(Ignacio stößt sein Glas um.)

Ignacio: Mein Fehler. Ich war mit den Gedanken wo anders. Ich hole mir noch ein Bier.

(Ignacio ab)

Dritte Szene

(Pandora steht vor einem kleinen Tisch, auf dem sich einige Flaschen befinden, und bereitet einen Whisky Sour zu.)
Dulcamara hat eine Schwäche für den dramatischen Auftritt.

Pandora: Du willst wirklich keinen Whisky Sour?
Ignacio: Da könnte ich gleich Rohrreiniger trinken. Wenn du wenigstens Zucker hineingeben würdest.

(Dulcamara auf. Er sitzt auf einem Fahrrad, dessen Anhänger ein buntgeschmückter Holzwagen mit zahlreichen Fächern und Laden ist.)

Dulcamara: Silentium, ihr Leute und höret mich!
Seid stille, spitzt die Ohren!
Gewiss habt einmal gehört ihr schon
durch Famas Ruf und Zunge
von jenem einz’gen Wundermann,
der jede Krankheit heilen kann.
Er nennt sich Dulcamara!
Seht hier vor euch ihn stehen.
Nun vernehmt meine Taten,
bekannt in ganz Europa
und … und … in sonstigen Städten!
Als Arzt zieh ich von Ort zu Ort,
durch Berge und durch Täler,
ich treibe jede Krankheit fort
und leere die Spitäler.
Ich biet euch die Gesundheit an
aus meiner Offizin,
drum komm und kaufe jedermann,
das ist noch Medizin.
Pandora: Ignacio, erinnerst du dich daran, dass du mir mehrmals sagtest, das Leben sei keine Oper?
Ignacio: Ja. Weshalb fragst du?
Pandora: Willkommen im ersten Akt der Oper „L’elisir d’amore“ aus der Feder des italienischen Komponisten Gaetano Donizetti.
Dulcamara: Ah, Mademoiselle ist eine Dame von Welt. Dann haben Sie sicherlich vom Trank des Perserkönig Dareios gehört. Dieses wundersame Gemisch, das die adeligen Damen Europas seit Jahrhunderten verwenden, ist aufgrund seiner unglaublichen Wirkung in der ganzen Welt bekannt und begehrt. Erst vor wenigen Jahren ist es Wissenschaftlern gelungen, das Geheimnis des Trankes zu entschlüsseln. Er besteht zu großen Teilen aus Kollagen, das zusammen mit seltenen arabischen Kräutern die Haut vor dem Altern schützt und ihr jugendliche Vitalität schenkt. Auf meiner Reise durch Persien gab mir ein Dorfältester zwölf Flaschen. Schon in der nächsten, größeren Stadt bestürmten mich die Damen und wollten sie kaufen. Sogar das britische Königshaus trat an mich heran. Doch eine Flasche des Trankes habe ich bis heute aufgehoben, um sie einer Frau zu übereichen, deren Schönheit einzigartig auf der Welt ist und nun steht sie vor mir.
Pandora: Mademoiselle ist auch eine Dame von Verstand und lässt sich daher nicht durch hohle Phrasen beeindrucken. Besonders, wenn sie etwas bewerben, das für Mademoiselle sehr nach arabischer Gelatine klingt.
Dulcamara: Ich kann Mademoiselle versichern, es ist nichts dergleichen. Der Trank duftet wie Rosen, schmeckt wie Portwein und seine Wirkung besiegt nicht nur das Alter, sondern hebt auch das Gemüt.
Pandora: Selbstverständlich bitte ich für meinen Fauxpas vielmals um Verzeihung. Es war töricht von mir zu sagen, dass die Flasche mit Gelatine gefüllt sei, wenn es sich doch offensichtlich um parfümierten Wein handelt. Wann immer es eine Lüge sein muss, soll diese dann auch süß sein.
Dulcamara: Ich weiß, dass die Wirkung unglaublich klingt, aber ich bin mir sicher, dass Mademoiselle ihren Zweifel mit der Zeit abstreifen wird, wenn Sie begriffen hat, dass ich ihre Schönheit nicht übertrumpfen – so etwas wäre gar nicht möglich – sondern nur erhalten will. Währenddessen hat Monsieur vielleicht Interesse an einem Mittel gegen Bluthochdruck. Es wird in mühsamer Handarbeit in den französischen Alpen im Ville d'Koetz nach jahrhundertealtem Geheimrezept hergestellt. Jeden Morgen zwei Tropfen auf den Rücken der linken Hand und die Schmerzen sind wie weggeblasen.
Ignacio: Ihnen ist schon klar, dass der Vulkan kurz vor dem Ausbruch steht? Toll, wenn dieses französische Wundermittel wirklich wirken sollte, aber falls ich jeden Morgen zwei Tropfen nehmen muss, um eine Wirkung zu erzielen, so habe ich wie es ausschaut keinen Bedarf.
Dulcamara: Ah Monsieur, der Vulkanausbruch. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe gegen jedes Leiden eine Medizin. Außer gegen Hämorriden. Gegen diese Plage ist kein Kraut gewachsen. Jawohl! Fürwahr zum Staunen. Pandoras Schätze trage ich in der Tasche.
Pandora: Ich zweifle an dieser Tatsache. Eine Tinktur gegen den Vulkanausbruch? Das klingt sogar für Ihre Verhältnisse ridikül. Ich kann es kaum erwarten zu erfahren, welche Wunderdinge Sie noch in Ihrem Anhänger verbergen. Ein Mittel gegen Taubheit? Ein Pulver gegen Krebs? Oder vielleicht sogar einen Trank, der einen aus den Klauen des Todes befreit. Ihrer Zunge ist jedes Mirakel zuzutrauen.
Dulcamara: Nicht nur meiner Zunge, Mademoiselle. Nicht nur meiner Zunge. Doktor Dulcamara ist ein Meister jeder Kunst und wenn Sie meinen Worten keinen Glauben schenken, muss ich wohl Taten sprechen lassen. Dieses Elixier, welches den Weisen aus dem Morgenland schon seit Jahrhunderten bekannt ist, vertreibt jeden Schmerz. Dieses Pulver, das im fernen China aus geriebener Tigerklaue und tibetischem Raupenkeulenpilz gewonnen wird, lässt Müdigkeit sofort verschwinden. Dieses Mittel, welches unter den Seefahrern der Hansestadt Hamburg seit Generationen begehrt ist, macht der Faulheit den Garaus. Diese Medizin, die aus Mexico stammt, zaubert den Damen eine natürliche Röte auf die Wangen, die jede Mamsell gelb vor Neid werden lässt. Dieser Trank, der-
Ignacio: Ich denke, wir haben verstanden, dass Sie – wie soll ich es nennen? – Säfte verkaufen. Aber Sie haben anscheinend nicht verstanden, dass wir nichts davon brauchen. Ich brauche nichts gegen Müdigkeit und erst recht nichts gegen Faulheit, weil ich nichts anderes zu tun habe, als mich von einem Vulkan töten zu lassen. Verstehen Sie? Ein Vulkanausbruch, dagegen kann man nichts machen.
Dulcamara: Sicherlich nicht, wenn meine Wundermittel so leichtfertig verschmäht werden. Ich biete die stärkten Tränke an, offeriere die wirkungsvollsten Pulver, präsentiere die effektivsten Salben. Meine Medizin vollbringt wahre Mirakel. Pandora: Das einzige Mirakel, das Sie im Stande sind zu vollbringen, scheint die Repetition zu sein, denn die angeblichen Wundertaten, die Sie mit stolzgeschwellter Brust zum besten geben, dünken mir höchsten ridikül.
Dulcamara: Ridikül? Höchstens im Angesicht des Herrgotts.
Pandora: Humbug! Ihre Tränke und Tinkturen sind nichts als Spielereien. Werfen Sie einen Blick in die Trickkiste des Ästheten und lernen Sie wie man Illusionen bändigt. Sie verkaufen Medizin, die eine natürliche Röte auf den Wangen bewirken soll, doch diese Röte verblasst im Lichte des Zaubers der Koketterie. Sie offerieren ein Elixier, das Erlösung von den Schmerzen bringen soll, doch wahre Erlösung liegt in der Kunst. Sie präsentieren ein Pulver, dass der Müdigkeit den Garaus machen soll, doch nichts regeneriert den Geist so gut wie der Genuss. Ihre Spielerein sind den Wein nicht wert, denn man dafür opfert. Ihre Tricks funktionieren, weil sie den Leuten vorgaukeln, dass sie Leid und Tod bannen könnten. Das ist aber nur von Erfolg gekrönt, weil meine Tricks die Menschen glauben lassen, dass das Leben lebenswert sei. Kosten Sie einen Schluck meiner Medizin, Dulcamara

(Pandora gießt etwas Rum in Glas und reicht es Dulcamara. Dieser nippt daran.)

Dulcamara: Mademoiselle, ich merke es schon. Ihre Kunst besiegt die meine. Das ist schlecht für das Geschäft. Es wird Zeit, dass ich zu denen gehe, die meine Wundersäfte noch benötigen. (Steigt auf das Rad und fährt los.) Ihr Freunde, lebt wohl nun. Lebt wohl nun.
Pandora: Passen Sie auf sich auf, Dulcamara. Nicht jeder wird sich Ihres Charmes mit Worten erwehren. Mancher wird sich genötigt fühlen, auf seine Fäuste zurückzugreifen.

(Dulcamara ab)

Ignacio: Ihr Freunde! Pah! Was für ein Spinner! Der hatte wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Am Ende glaubt er noch, was er von sich gibt.
Pandora: Mir ist dein Zorn nicht ganz verständlich. Du hast dein Geld doch auch als Verkäufer verdient.
Ignacio: Ja, als Verkäufer, aber nicht als Scharlatan. Ich habe nie erzählt, dass ein Fernseher Brot toasten könnte, nur um ein Gerät zu verkaufen. Ich bin ein ehrlicher Verkäufer.
Pandora: Du warst es. Du warst ein ehrlicher Verkäufer. Jetzt könntest du höchsten noch dem Teufel deine Seele andrehen.
Ignacio: Was auch immer. Vielleicht würde ich dann auch erfahren, warum du an diesem Doktor Dummkopf einen Narren gefressen hast. Einer jungen Mutter zeigst du die kalte Schulter, aber wenn ein Wirrkopf vorbeischaut, willst du ihn gar nicht gehen lassen.
Pandora: Jetzt übertreibst du aber. Doch kennst du sicherlich dieses Gefühl der Leere, wenn ein gutes Buch, das man gelesen hat, oder ein guter Film, den man gesehen hat, zu Ende ist.
Ignacio: Ja, aber was hat das mit diesem Spinner zu tun?
Pandora: Diese Leere ist die Gewissheit, dass man nie Teil einer Welt sein wird, die man ins Herz geschlossen hat. Genauso ist es in der Oper, wenn sich der Vorhang senkt. Ein Tor zu einer anderen Welt wird geschlossen und so schön es ist, vor der Bühne zu sitzen, manchmal möchte man auch hinter der Bühne stehen. Nun werde ich nie wieder ein Opernhaus betreten können, aber dank Dulcamara durfte ich zumindest noch einmal auf der Bühne stehen.

Fünfter Akt

Erste Szene

(Pandora liest ein Buch, während sich Ignacio langweilt. Pandora legt das Buch zur Seite.)

Pandora: Was geschah im Schlafzimmer von Donna Anna?
Ignacio: Keine Ahnung. Ich kenne diese Frau nicht einmal. Woher soll ich also wissen, was in ihrem Schlafzimmer passiert? Abgesehen davon, geht es mich auch nichts an.
Pandora: Ist dir Donna Anna nicht bekannt? Hast du noch nichts von ihr gehört?
Ignacio: Nein und in ihrem Schlafzimmer war ich auch nicht. Deinen Klatsch musst du dir wo anders besorgen.
Pandora: Humbug, es geht nicht um Klatsch. Nun gut, in gewisser Weise geht es doch um Klatsch, denn bei der Interpretation von Theaterstücken und Opern mutmaßt man gerne über die Motive und Anregungen von fiktiven Personen und zwar hinter deren Rücken.
Ignacio: Bringt es überhaupt noch etwas zu erwähnen, dass deine Worte keinen Sinn ergeben?
Pandora: Bitte, belästige mich nicht mit der Sinnfrage. Diese überstrapazierte -
Ignacio: Genau das habe ich damit gemeint. Warum sagst du mir nicht einfach, wer Donna Anna ist und warum ich wissen sollte, was in ihrem Schlafzimmer geschah.
Pandora: Wenn du insistierst, werde ich Licht ins Dunkel bringen. Donna Anna ist eine Figur aus der Oper „Don Giovanni“, die damit beginnt, dass der Diener Leporello auf seinen Herrn Don Giovanni wartet, der versucht eben diese Donna Anna zu entführen. Nun gibt es Denker, die mir schon an dieser Stelle widersprechen würden, da sie der Ansicht sind, dass es gar keine Entführung ist, sondern vielmehr ein Trick der Donna Anna. Das Libretto ließe diese Deutung zwar zu und eine energische Donna Anna schadet der Oper keineswegs, aber ich denke, dass hier sehr stark romantisches Gedankengut mitschwingt. Ein Blick auf die Erzählung „Don Juan“ aus der Feder des deutschen Schriftstellers E.T.A. Hoffmann deutet-
Ignacio: Zum Punkt, Pandora. Komm einfach zum Punkt.
Pandora: Du erdreistest dich wohl nicht, eine Einführung in die Oper aller Opern auszuschlagen?
Ignacio: Ich habe mich mein Leben lang nicht dafür interessiert, also muss ich kurz vor meinen Tod nicht damit anfangen.
Pandora: Es ist nie zu spät für Erlösung.
Ignacio: Wenn du einfach fortfahren könntest. Ich weiß jetzt zwar, wer diese Donna Anna ist, würde aber gerne noch vor dem Vulkanausbruch erfahren, was du mit dieser Donna-Anna-Frage bezwecken wolltest.
Pandora: Was auch immer in diesem Schlafzimmer geschehen ist, war nicht nur für Donna Anna, sondern auch für Don Giovanni ein prägendes Erlebnis, denn danach tötet er jemanden, scheitert an der Eroberung eines Bauernmädchens, wird von einem wütendem Mob gesucht und dann von einer Statue der Strafe zugeführt. Sicherlich, er war auch vorher ein Wüterich, aber nach dieser Nacht, in der er sich an Donna Anna vergriff, läuft alles aus dem Ruder. Meine etwas plump gestellte Donna-Anna-Frage hatte nur den Sinn zu erfahren, welch verstörendes Ereignis dir in Donna Anna Schlafzimmer widerfahren ist, das dazu führte, dass du nun hier sitzt.
Ignacio: Du spielst jetzt nicht auf den Vulkanausbruch an, oder? Ich meine, Vulkanausbruch wäre die Antwort auf die Donna-Anna-Frage, aber selbst in deiner Realität ist die Katastrophe ja angekommen, also kann es dann doch nicht die Antwort auf die Frage sein.
Pandora: Du hast die Intention verstanden, also besteht keine Notwendigkeit dies zu leugnen.
Ignacio: Ich habe keine Ahnung, was du von mir willst.
Pandora: Selbstverständlich bist du über die Absicht meiner Fragestellung im Bilde. Du willst mir nur weißmachen, dass du es nicht bist.
Ignacio: Die andere Formulierung ändert nichts daran, dass ich keine Ahnung habe, was du von mir willst.
Pandora: Selbstverständlich, weißt du es.
Ignacio: Nein, ich weiß es nicht.
Pandora: Selbstverständlich, weißt du es.
Ignacio: Nein, ich weiß es nicht.
Pandora: Selbstverständlich, weißt du es.
Ignacio: Gut, du hast Recht. Ich habe es die ganze Zeit gewusst. Dennoch, wie wäre es, wenn du mir einfach noch einmal erklären würdest, was du mit dieser Donna-Anna-Frage herausfinden willst. Nur um die letzten Zweifel auszuräumen.
Pandora: Wenn du insistierst, werde ich versuchen die letzten Reste der Unklarheit zu vertreiben. Ich möchte darauf hinaus, dass es ein Ereignis in deinem Leben gab, das dazu geführt hat, dass du nun hier am Strand sitzt und auf den Tod wartest. Sicherlich, du wurdest von deiner Frau verlassen, du konntest dich nicht von deiner Tochter verabschieden und der Vulkanausbruch hat dich dazu gezwungen Hals über Kopf dein Zuhause zu verlassen. Das sind Dinge, die einem die Lebensfreude rauben können und dennoch erkenne ich einen gewissen Spaß am Leben wie ihn Don Giovanni hat. Und wie bei Don Giovanni sehe ich trotzdem keinerlei Bemühungen, der Katastrophe zu entgehen. Was hat dir Donna Anna gezeigt, dass du dich für einen Todgeweihten hältst?

Wer braucht schon Kinder, wenn man das Pariser Opernhaus besuchen kann?

Ignacio: Als würde es nicht ausreichen, dass ich weder meine Tochter, noch meine Frau, noch mein Haus jemals wiedersehen würde.
Pandora: Das ist tragisch – nehme ich einmal an – aber aus deinen Taten spricht keine Verbitterung, die eine Todessehnsucht rechtfertigen würde. Niemand, der am liebsten auf der Stelle tot umkippen würde oder wenigstens darauf wartet, dass ein Vulkan seinem Leben ein Ende setzt, spricht voller Begeisterung von der Liebe, setzt sich energisch für eine junge Mutter ein, betrauert einen verrückten Pfaffen und schafft es sogar noch, sich über einen armseligen Scharlatan zu echauffieren. So agiert niemand, der das Leben hasst, so agiert jemand, der sich seines Todes nicht mehr erwehren kann. Ich habe die Vermutung, dass deine Donna Anna eine Ärztin war. Vielleicht eine Erbkrankheit. Vielleicht eine Krebserkrankung. Auf jeden Fall war deine Welt nach dieser Diagnose nicht mehr die gleiche. Der Rest ist Geschichte.
Ignacio: Es ist ein Tumor im Kleinhirn, der für einen Tremor der linken Hand sorgt. Das Ende der Geschichte ist, dass er inoperabel ist und die Bestrahlung ein Vermögen kostet, das ich nicht habe.
Pandora: Wann hast-
Ignacio: Vor einer Woche.
Pandora: Und deine Frau-
Ignacio: Ich habe ihr nichts erzählt, aber ich bin mir sicher, dass sie etwas gemerkt hat. So eine Diagnose geht nicht spurlos an einem vorbei und Paz muss gewusst haben, dass etwas nicht in Ordnung ist. Aber was hätte ich tun sollen?
Pandora: Was auch immer deine Handlungsmöglichkeiten waren, du hast dich für den Vulkan entschieden.
Ignacio: Ich habe mich nicht dafür entschieden. Es hat sich so ergeben. Nachdem mich meine Frau im Stich gelassen hat, wollte ich zu ihr und dann bin ich auf dich gestoßen. Du hast von Schönheit und Genuss erzählt, was besser klang als ein qualvoller Tod durch einen Gehirntumor, weshalb ich jetzt hier sitze. Meine Lebensversicherung reicht vermutlich aus, dass Pamina das Studium beenden kann und Paz erspart sich die schlechte Nachrede, wenn ich beim Vulkanausbruch sterbe. Ich muss außerdem meine letzten Stunden nicht in einem schmierigen Krankenhausbett verbringen. Es gewinnen also alle.
Pandora: Es ist genau dieser Zwangsoptimismus, der einer verbitterten Person nicht zu Eigen sein könnte.
Ignacio: Was ist eigentlich die Antwort auf deine Donna-Anna-Frage?
Pandora: Du hast sie schon beantwortet. Die Antwort ist die Diagnose deines Gehirntumors.
Ignacio: Das habe ich nicht damit gemeint. Warum bist du hier?
Pandora: Das hier ist quasi mein Strand. Ich wohne nebenan.
Ignacio: Das habe ich nicht damit gemeint. Schau einmal, aus dir sprudelt zwar nicht gerade die Menschenliebe und manches, von dem was du sagst, ergibt keinen Sinn, aber wenn du über die Oper oder das Theater sprichst, schwingt eine Begeisterung mit, die jedes frischverliebte Paar vor Neid erblassen lassen würde. Voller Liebe sprichst du von den Bühnen Europas. Warum bist du hier und nicht in der Opéra Garnier? Oder wie immer dieses Ding in Paris heißt. So wie ich davon träume meine Pamina wiederzusehen, träumst du davon, eine gute Aufführung der Zauberflöte zu sehen. Was hat Donna Anna DIR erzählt?
Pandora: Ich leide an einer Atrophie der Gehörnerven. Die Ärzte geben mir noch zwei Jahre bis meine auditive Wahrnehmung unwiederbringlich verloren ist und ein Heilmittel gibt es nicht. Noch schränkt die Erkrankung meinen Alltag nicht ein, da sie früh diagnostiziert wurde. Doch diese Diagnose war nur möglich, da mir beim Lauschen der Klavierkonzerte von Beethoven bestimmte Feinheiten nicht mehr aufgefallen sind und ich daher einen Arzt konsultiert habe. Direkt nach der Diagnose habe ich mir einen Gehörschutz gekauft, bin nachhause gefahren und habe ihn aufgesetzt. Es war grauenvoll. Ich will nicht in meiner Erinnerung leben. Ich will nicht taub sein.
Ignacio (laut.): Das tut mir leid.
Pandora: Es gibt keinen Grund zu schreien. Noch bin ich nicht taub. Erspare mir außerdem dein Mitleid. Diese Demütigung habe ich nicht verdient. (Kurze Pause.). Ich habe Hunger. Es ist Zeit für das Abendessen.

(Pandora ab)

Zweite Szene

(Ignacio und Pandora sitzen in den Rattansesseln und essen.)
Bühnenbildskizze:Steak

Ignacio: Mein Kompliment. Das Steak ist ausgezeichnet. Ich bin positiv überrascht.
Pandora: Positiv überrascht? Hast du mir so etwas nicht zugetraut?
Ignacio: Um ehrlich zu sein, hätte es mich schon überrascht, wenn du eine Dose Bohnen zubereitetet hättest. Du wirkst wie jemand, der keine Rezepte sondern nur Telefonnummern von Restaurants kennt.
Pandora: Du weißt, Ignacio, es gab eine Zeit als ich eine arme Studentin war, die es sich nicht leisten konnte, essen zu gehen und daher von ihren eigenen Kochkünsten abhängig war. Außerdem ist es nur ein Steak. Das ist keine Kunst. Drei Minuten links, drei Minuten rechts und fertig ist das Essen.
Ignacio: Fang jetzt nicht an, bescheiden zu werden. Diese Eigenschaft passt nicht zu dir. Das Essen ist ausgezeichnet und auf die Idee, dass man ein Filetsteak mit einem Hüftsteak begleitet, muss man erst einmal kommen.
Pandora: Danke.
Ignacio: So lässt es sich auf den Tod warten.

Dritte Szene

(Ignacio und Pandora sitzen in den Rattansesseln, paffen Zigarren und betrachten den Sonnenuntergang. Auf dem Tisch stehen zwei Gläser Rum. Persephone steht unbemerkt von Pandora und Ignacio im Hintergrund. Ein Klavier steht am Bühnenrand, ebenfalls unbemerkt von Pandora und Ignacio.)

Ignacio: So sieht also ein Vulkanausbruch aus.
Pandora: Ich bin erstaunt, dass er lautlos von statten geht.
Ignacio: Es scheint nur so. Licht ist schneller als Schall. Daher sehen wir den Ausbruch, bevor wir ihn hören, wenn wir ihn überhaupt hören, denn ein pyroklastischer Strom kann sich sogar mit Schallgeschwindigkeit fortbewegen.
Pandora: Also das Rot des Sonnunterganges harmoniert wundervoll mit dem Vulkanausbruch. Ich habe sogar den Eindruck, dass die in die Luft gewirbelte Asche den Farbton intensiver wirken lässt.
Ignacio: Du hast Recht. Was machen wir jetzt, nachdem der Vulkan ausgebrochen ist?
Pandora: Zum Weglaufen ist es schon zu spät.
Ignacio: Das habe ich nicht gemeint. Ich dachte eher an Letzte Worte.
Pandora: Letzte Worte sind etwas für Idioten, die glauben, dass der Tod, der ihnen das Leben raubt, ihren Worten dafür Bedeutung schenkt. Wir sollten Mozart sprechen lassen.

(Persephone schreitet unbemerkt von Pandora und Ignacio und beginnt den ersten Satz der Sonata Facile (KV545) von Wolfgang Amadeus Mozart zu spielen, ohne die Aufmerksamkeit der beiden auf sich zu ziehen, sobald Pandora ihren letzten Satz beendet hat. Nach circa einer Minute verstummt die Musik und die Bühne wird verdunkelt.)

Fin
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