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Diverses:Pekinger Nächte

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Normalerweise besuche ich während meiner freien Tage keine chinesischen Metropolen, sondern verbringe meinen Urlaub meist auf irgendwelchen Ruinen, um mir ein paar Steine und deren Inschriften anzuschauen, oder besuche europäische Städte, wo ich von einem Museum zum nächsten hetze. Das hängt vermutlich mit meinen Beruf zusammen, ich bin Lateinlehrer an einer Privatschule in Wien, hat aber auch sicherlich mit meiner Kunstliebe zu tun. Daher ist es nicht verwunderlich, dass meine Verlobte Mai-Lin mehr als vier Jahre brauchte um mich zu dieser Chinareise zu überreden. Und so verließ ich vor fünf Tagen im Alter von 39 Jahren zum ersten Mal Europa, um in Peking zu landen und neben den klassischen Touristendestinationen auch Verwandtenbesuche zu absolvieren. Zumindest glaubte ich das:

Auf zu neuen Ufern

Mai-Lin sorgt sich um mein Wohl und tut dies mit einer solchen Inbrunst, dass ich wie ein unfähiger Versager rüberkomme
Willst wirklich nicht mitkommen,“ fragt meine Verlobte. Wir befinden uns in der Wangfujingstraße. „Nein, leider nicht. Ich bin müde und möchte mir die Peinlichkeit ersparen, vor den Augen deiner Großtante einzuschlafen,“ lüge ich. In Wahrheit habe ich diese vedammten Familienbesuche satt.

Sicherlich war es interessant Mai-Lins Onkel oder Großeltern kennen zu lernen, aber mittlerweile sind wir bei einem Verwandtschaftsgrad angelangt, der so gering ist, dass ich manche Schimpansen aus dem Schönbrunner Tiergarten zur Familienfeier einladen müsste, wenn ich den Kreis meiner Familie ähnlich großzügig ziehen würde. „Wenn du müde bist, können wir den Termin verschieben,“ versucht es Mai-Lin weiter und legt ihre Hand in meine. Sie blickt in meine Augen und ergänzt: „Bitte, komm mit mir. Meine Großtante wird sich freuen.“

Ich bin untröstlich, Sperata. Ich habe schon genug damit zu tun, mich vor deinen Verwandten dafür zu rechtfertigen, dass ich ein Studium wählte, das primär auf Profit ausgelegt ist. Wenn man dann noch dazu beginnt von humanistischer Bildung zu sprechen, sind sie eingeschnappt. Jetzt will ich nicht als Draufgabe auf dem Sofa deiner Großtante einschlafen und mir einen Ruf als Faultier einhandeln.“

„Aber meine Familie mag dich, auch wenn du unabsichtlich den Leuten Taschenuhren und mit roter Tinte geschriebene Glückwunschkarten geschenkt hast.“ „Ich mich halt geirrt. Das kann passieren. Ich habe mich auch ausgiebig dafür entschuldigt, wobei ich nicht genau wissen will, was mir deine Mutter alles an den Kopf geworfen hat, als ich mich darüber empörte, warum sie sich über das Geschenk beschwere, nicht wissend, dass man in China keine Blumen schenkt.“ „Vielleicht lag es auch daran, dass du dich vorher abfällig über ihre Porzellanfiguren geäußert hast.“

„Ich habe nun einmal Klassische Philologie und Kunstgeschichte studiert und erkenne daher ein billiges Made-in-China-Fabrikat“ „Wir sind hier auch in China“ „Das du alles so genau nehmen musst. Ich habe halt Kunstgeschichte studiert. Irgendwas muss ich damit ja anfangen, auch wenn es nur das Kritisieren der Zimmereinrichtung ist. Und damit ich den Ramsch, der die Wohnung deiner Großtante verstopft, nicht einer oberflächlichen Analyse unterziehe, sollte ich liebe im Hotel die Polster inspizieren.“ „Bitte komm mit mir,“ versucht es meine Verlobte, doch in fünf Jahren Beziehung habe ich ihre Tricks kennengelernt und mich damit vertraut gemacht. Daher bleibe ich unbeeindruckt und lüge aus tiefster Überzeugung:

„Ich glaube, es ist die verdammte Matratze. Die verdammte Matratze bringt mich noch um.“ Eigentlich belüge ich Mai-Lin äußerst ungern, aber in den letzten Tagen hatte ich den Eindruck mehr Vorführäffchen als Mensch zu sein. Ich wurde von einer Wohnung in die nächste geschleppt, wo ich mir wieder anhören durfte, dass klassische Philologie ein unnützes Studienfach sei. Das ist übrigens auch einer der wenigen Punkte gewesen, die persönlich mit mir besprochen wurde. Die meisten Fragen und Statements zu meiner Person waren an Mai-Lin adressiert. Da das Gespräch noch dazu auf chinesisch verlief, war ich nicht nur ganz aus dem Rennen, sondern gewann auch den Eindruck, dass meine zukünftigen Verwandten nicht im besten Ton über mich sprachen.

Lateinlehrer aller Länder emanzipiert euch! Meine Verlobte tritt an mich heran, umarmt mich, führt ihre Lippen an meine. Dann hält sie kurz inne, legt ihren Kopf nach hinten, blickt in meiner Augen und sagt mit zarter Stimme: „Einverstanden, fahr ins Hotel. Ich komme dann nach. Soll ich ein Taxi für dich rufen?“ „Nein, das schaffe ich schon. Ich bin kein Kind mehr.“

Die Fußgängerzone in der Wangfujingstraße zählt zu den schönsten Plätzen Pekings
„Pass trotzdem auf dich auf,“ gibt mir meine Verlobte mit auf den Weg, fährt mit ihrer Hand durch mein gekämmtes Kopfhaar und schenkt mir einen Blick, der mein Herz vor Freude auf ihre Rückkehr ins Hotel höher schlagen lässt. Während ich gemächlich zum nächsten Taxistand schlendere, gehe ich noch einmal kurz die Pläne für den heutigen Abend durch. Diese sind sehr zu meiner Freude denkbar einfach: Zurück zum Hotel fahren, dort in der näheren Umgebung etwas essen und dann ab aufs Hotelzimmer.

Ich will gerade in ein Taxi steigen, als mir einer dieser ulkigen Straßenprediger auffällt, die einem gelegentlich in Peking über den Weg laufen. Er sieht mich auch und erkennt sofort, dass ich kein Chinese bin, weshalb er in Hoffnung auf eine zu rettende Seele auf mich zustürmt und mir hastig zuruft: „Kehre um, du bist am falschen Weg! Kehre um und erkenne Jesus als den Erlöser! Kehre um, ehe es zu spät ist“ „Yuk ak katan[1],“ antworte ich lakonisch und steige ins Taxi ein, ohne mich zu sehr darüber zu wundern, dass mich in Peking ein deutscher Prediger angesprochen hat.

Denn das hieße diesem Spinner zu viel Beachtung zu schenken. Wie im Reiseführer empfohlen, reiche ich dem Taxifahrer einfach die Visitenkarte des Hotels. Dieser nickt und ergänzt sehr zu meiner Überraschung: „Nice Hotel[2].“ Normalerweise bin ich niemand, der Gespräche mit dem Taxifahrer schätzt, aber da es mir gelungen ist, mich vor einem Großtantenbesuch zu drücken und ich daher momentan von einem Hochgefühl berauscht bin, lasse ich mich zu einer Antwort hinreißen und erwidere: „I agree[3].“

Wieder nickt der Taxifahrer und schaltet den Motor ein. Während er aus der Parklücke schiebt, blicke ich aus dem Fenster und sehe immer noch den Prediger, der am Gehsteig steht und mit seinen Lippen die Worte “Kehre um“ formt. Was für ein Spinner. Es ist ein Wunder, dass er noch nicht in eine geschlossene Anstalt gebracht worden ist. Nach kurzer Fahrt fragt der Fahrer: „Do you like Peking?[4]“ „Yeah, You know, it's big and kind of intresting.[5]“ Er nickt und will wissen: „Do you like chinese girls[6]?“ „Yeah, who doesn't? I love them[7],“ erkläre ich. Wieder nickt er.

Prioriten setzen

Es wird dunkel in Peking
Ich starre aus dem Fenster und betrachte die vorbeiziehenden Häuserfassaden . Obwohl es schon nach 21:00 Uhr ist , tummeln sich die Menschen auf der Straße. Unmengen an Moped- und Autofahrer verstopfen die Verkehrswege. Es ist mir ein Rätsel, wie die sich hier zurecht finden. Die wenigen Schilder, die es gibt, sind auf chinesisch. Zugegeben, das ist für die Einheimischen mehr Vorteil als Nachteil, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass ich die verdammten Schilder nicht lesen kann. Das einzige, das mir auffällt ist, dass die Häuser tendenziell kleiner und schäbiger werden.

Ich denke mir aber nichts dabei, sondern lasse mich vom Rauschen des Motors und den chinesischen Schlagersongs, die aus dem Radio kommen, einlullen. Nach einiger Zeit bleibt das Taxi vor einem schäbigem, zweistöckigem Haus stehen, das grün angestrichen ist. Verschlafen steige ich aus und habe schon die Autotür geschlossen, als mir auffällt, dass das Gebäude vor mir nicht mein Hotel ist. Eine kurze Drehung um meine eigene Achse zeigt mir, dass ich mich nicht in der Nähe meines Hotels befinde. Genaugenommen habe ich überhaupt keine Ahnung, wo ich bin. Der Taxifahrer steigt aus und ich frage:

„Where am I? Well, I don't care, as long as I am staying next to the hotel, but this is not the case. So, where am I?[8]“ „Wait a second, Mister. Just a second. I have to enter building. Just a second.[9]“ Noch bevor ich etwas sagen kann, ist er schon im Gebäude verschwunden, sodass ich notgedrungen vor dem Auto stehen bleibe und warte. Die Häuser sind heruntergekommen und haben die besten Tage hinter sich, wobei ich nicht weiß, ob sie wirklich jemals gute Tage hatten. Es hat den Anschein, dass ich in den Slums von Peking gelandet bin.

Diese Erkenntnis ist keine von der tröstlichen Sorte, denn die Slums sind nicht gerade für ihren Ruf als Wohnviertel des friedlichen Mittelstandes bekannt, sondern eher für ihre mangelnde Lebensqualität berüchtigt. Außerdem reihen sie sich wie ein Speckgürtel um das Zentrum von Peking, sodass ich noch immer keine Ahnung habe, wo ich bin. Weil ich niemand bin, der mit einem ausgezeichneten Orientierungssinn gesegnet wurde und mich daher gelegentlich verirre – besonders schlimm war es in Pompeji, wo jedes Haus aussieht wie das andere. Die Straßen hinauf; die Straßen hinunter und all dies bei 40° Celsius. Wie viele Archäologen und Altphilologen haben in diesem unwirtlichen Labyrinth wohl ihr Leben gelassen – ist eine solche Situation nicht neu für mich. Normalerweise frage ich einfach nach dem Weg und schon muss ich nicht mehr dem Hungertod ins Auge blicken.

Diese Straße – unbedeutend, wo sie liegt oder wie sie heißt – zählt sicherlich nicht zu den schönsten Orten Pekings.
Hier ist die Situation leider etwas prekärer. Das liegt einerseits daran, dass ich die Landessprache nicht spreche, andererseits ist dies auch dem Umstand geschuldet, dass hier alle Hinweise in Schriftzeichen zu Papier gebracht worden sind, die man zwar erkennen und unterscheiden, aber wohl schwerlich als sinnstiftend bezeichnen kann. Zumindest geht es mir so. Und die einzige Person, die mir hier heraus helfen kann, ist ein chinesischer Taxifahrer, der vor einem zwielichtigem, schäbigem, grünem Gebäude stehen geblieben ist, das mit seiner buntleuchtenden Schriftzeichen so aussieht wie ein Spielwarengeschäft.

Ich blicke auf die Uhr. Es ist 21 Uhr 34. Ich warte jetzt nun schon geschlagen fünfzehn Minuten und hätte längst Reißaus genommen, wenn nur ein Taxi, ein Bus oder irgendein adäquates Transportmittel vorbeigekommen wäre, doch diese verdammte Straße wird nur von einem Haufen Chinesen frequentiert und zwar in einem Ausmaß, das den Eindruck erweckt, dass die Hälfte der Pekinger Stadtbevölkerung vorbeigegangen ist. Von den gefühlten vier Millionen Chinesen, die an mir vorbeigeschritten sind, kam aber niemand auf die Idee, dem verwirrten und hilflos aussehenden Europäer zu helfen. Letztendlich erbarmt sich der Taxifahrer in Begleitung einer gutaussehenden Chinesin das Gebäude zu verlassen und mich nachhause zu kutschieren.

Eigentlich sollte ich ihn jetzt zusammenschreien, was er sich einbilde, mich hier einfach stehen zu lassen, aber wenn ich das tue, dann bestünde die Möglichkeit, dass er sagt, ich könne ihn am Arsche lecken und mir eine andere Transportmöglichkeit suchen. Daher schweige ich einfach, als er sich mit seiner Begleitung annähert und lasse ihn das Wort ergreifen. Dieses fällt unerwartet aus: „2000 a night[10].“ „Pardon?[11]“ frage ich etwas perplex und habe noch nicht ganz mitbekommen, dass dieser Groteske eine weitere Facette hinzugefügt wurde. Der Taxifahrer grinst, zeigt auf seine Begleitung und erklärt:

„I understand. I understand. 1500 a night.[12]“ Mir klappt die Kinnlade nach unten. Der Typ bietet mir eine Prostituierte an. Irgendwie unwissend, was ich machen soll, stammle ich vor mich her: „ähhh, yeah, ähhh,[13]“ „Okay, Mister,[14]“ entgegnet der Taxifahrer und macht Anstalten sich fortzuschleichen. Ich sage: „Hey Mister, wait![15]

Der Kerl geht seelenruhig weiter. „Okay, 1200 a night,[16]“ sind seine letzten Worte, dann steigt er ins Auto und fährt los. Einige Augenblicke stehe ich einfach da und starre dem Taxi nach. Meine Fahrkarte ins Hotel. Meine sichere Rettung vor dem Hungertod fährt einfach weg, zischt ab, verduftet, kratzt die Kurve, marginalisiert sich und lässt mich allein. Aus den Slums Pekings wurden für mich das Labyrinth des Minotaurus. Ich greife an meine Stirn, atme tief ein und schreie: „Scheiß, verfluchter Bastard, Sohn einer Kuh, Chinesischer Catalina, Idiot, Arschloch, Bruder einer inzestgeschädigten Ziege.“

Da ich ab dem Wort Bastard begonnen habe, wie ein hyperaktives Wombat im Kreis zu hüpfen, muss ich einen ziemlich befremdlichen Eindruck machen, der durch den schwarzen Anzug, den ich trage, vermutlich noch verstärkt wird. Daher und weil es sinnlos ist, stelle ich dieses seltsame Gebären ein und versuche mir einen Überblick zu machen. Dieser sieht nicht allzu rosig aus.

Erstens weiß ich nicht, wo ich bin. Peking als Ortsbestimmung mag zwar für eine Postkarte reichen, ist aber für meine Situation zu wenig. Zweitens, weder spreche ich ein Wort Chinesisch, noch kann ich die Schrift lesen. Im Zuge meine Berufslaufbahn habe ich zwar neben Deutsch, auch Englisch, Latein, Altgriechisch und Italienisch gelernt, doch die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich damit durchschlagen kann, ist gering. Drittens habe ich eine Prostituierte an der Backe, die zwar nicht zwingend darauf besteht, dass ich mit ihr den Geschlechtsakt vollziehe, aber zumindest eine Bezahlung erwartet.

Sollte ich bis morgen Abend nicht zurückkommen, wird dieses Foto an jede Straßenlaterne von hier bis Dschibuti geklebt.
Alles in allem ist meine Ausgangssituation wie schon erkannt nicht gerade rosig und erlaubt durch aus eine Panikattacke, die für meine Situation aber trotzdem nicht förderlich wäre. Ungeachtet dessen, trete ich noch einmal gegen eine Straßenlaterne, was mein Fuß mit ziemlich starken Schmerzen quittiert. Während dieser doch sehr entwürdigenden zwei Minuten habe ich vollkommen auf meine Begleitung vergessen, die wenn nicht schon den Glauben verloren, zumindest stark an meiner geistigen Gesundheit zweifelt. Da meine unfreiwillige Begleitung aber immer noch neben mir steht, nehme ich einmal an, dass sie meinen Auftritt nicht wirklich als bedrohlich, sondern eher mehr belustigend empfand.

Man sieht ja nicht alle Tage einen Österreicher, der ein Wombat imitiert und dabei brüllt wie ein Orang-Utan. Vor allem nicht in den Slums von Peking. Während ich meine Begleitung betrachte, sie schon fast in Gedanken ausziehe und versuche den Inhalt der Bergpredigt Jesu zu verdrängen, kommt mir in den Sinn, dass die Prostiuierte das Tor zu meinem Glück sein könnte. Das bezieht sich jetzt nicht auf sexuelle Genüsse – ich bin immerhin verlobt – sondern auf meine missliche Situation.

Meine Begleitung könnte mein Schlüssel raus aus diesen Slums sein. Adieu Slums, Guten Abend weiches Hotelbett. „How can I get out of here?[17]“ frage ich in ungezwungenem, gelassenem Ton und erhalte als Antwort: „For nice looking man like you, special price.[18]“ Nun gut sie versucht zwar aus meinem Leid Profit zu schlagen, aber wenigstens lässt sie mich nicht im Regen stehen. Mit einem Achselzucken erkläre ich : „Okay, I'll pay, but how can I get out of here?[19]“ „1200 a night include blowjob, handjob, tittfuck and photos. You pay extra for anal or bondage. No Filming or pissing,[20]“ wird mir in gebrochenem Englisch erklärt. Sofort drängt sich mir die Frage auf, wie die sexuelle Stimulation des Penis durch Nutzung der weiblichen Brüste – im Fachjargon meist Tittenfick genannt – bei der geringen Brustgröße der Prostituierten funktionieren soll.

Dann fällt mir auf, dass die Preise in China auch nicht so günstig sind wie erwartet. Doch es dauert auch noch einige Sekunden bis ich der Tatsache gewahr werde, dass ihre Antwort mir überhaupt nichts nützt und es braucht noch einmal einige Sekunden, bis sich ein düsterer Verdacht einstellt. Vorsichtig frage ich: „Where am I?[21]“ „Not in public. Fuck in hotel[22]“ erhalte ich als Antwort.

Ich knicke ein, bedecke mein Gesicht mit der rechten Hand. Mein Wegweiser aus den Slums stellt sich als Arschtritt des Schicksals heraus. Adieu weiches Bett. Guten Abend Hungertod. Am liebsten würde ich meinen Schädel gegen die Straßenlaterne knallen, wenn es nicht so verdammt weh täte. Die Prostituierte sieht, dass ich entnervt bin und weicht einen Schritt zurück. Dabei kann sie nichts dafür.

In typisch europäischer Arroganz habe ich es abgelehnt mir die einfachsten chinesischen Vokabeln einzuprägen oder vielleicht sogar ein paar einfache Sätze zu lernen. Confiteor me mihi dolorem intulisse, mea culpa, mea culpa, mea maxima Culpa[23]. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin, trage kein Mobiltelephon bei mir und bin der Landessprache nicht mächtig. Zerknirscht gehe ich los und suche ein Restaurant, denn mein Magen knurrt schlimmer als ein Dobermann. Die Prostituierte trottet hinter mir her.

Essen mit Hindernissen

Während ich immer auf Suche nach Rettung noch durch dieses Straßengewirr schleiche, wird das Hungergefühl in meinem Magen stärker. Ach, ich spüre schon den kalten Hauch des Hungertods im Nacken. Er ist kalt und grausam. Seit dem Frühstück harre ich mit leerem Magen aus. Ich spüre wie die Kräfte schwinden. Ich weiß, die Literatur gibt mir eine Gnadenfrist von mehreren Tagen und ich werde sicherlich nicht innerhalb der nächsten zehn Minuten tot umkippen – zumindest nicht bedingt durch meinen Hunger – aber als verwöhnter Mitteleuropäer ist man diesen Hunger einfach gewohnt.

Die Tatsache, dass ich mich bei einem Restaurantbesuch vielleicht nicht verständigen könnte, mildert noch dazu nicht gerade mein Hungergefühl. Meine Begleitung ist auch keine große Stütze. Sie trottet mir zwar nach, sagt aber nichts und macht auch keine Anstalten mir irgendwie zu helfen. Sie ist die Personifizierung des Steißbeins. Während ich einfach träge meinen Gedanken folge, die sich fragen, welcher höheren Macht ich ans Bein gepinkelt habe, damit sie mich in dieses chinesische Labyrinth schickt, fällt mir etwas auf, dass so aussieht wie ein Restaurant. Von Hunger getrieben und Verzweiflung geplagt, trete ich einfach ein und lasse das Unglück geschehen. Doch zu meiner Überraschung bleibt es aus.

Ich weiß nicht, was es ist. Ich weiß nicht, wie es heißt. Ich weiß nur, dass es gut schmeckt.
Die Menschen, die an den Tischen sitzen, schmatzen und schlürfen, beachteten mich aber nicht. Die für Europäer rüden Essgewohnheiten der Chinesen waren mir eigentlich immer unangenehm, doch heute gereichen sie mir zum Vorteil. Der Lärmpegel ist zu meiner Überraschung erstaunlich hoch, aber das stört mich weniger, sondern freut mich mehr, denn so würden etwaige Fauxpas unbemerkt bleiben. Ich setze mich an einen Tisch. Mir gegenüber nimmt die Prostituierte Platz. Die Bedienung kommt, bringt die Speisekarten und fragt etwas, das ich nicht verstehe.

Ich nicke brav, nehme die Speisekarte zur Hand und bete, dass sich Bilder in der Speisekarte finden würden. Und es gibt sie tatsächlich. Voller Freude zeige ich auf zwei Bilder der Speisekarte. Die Kellnerin nickt und fragt: „你想任何大米?“ Etwas überrascht erkläre ich: "I don't speak mandarin chinese.[24]“ „你想任何大米?“ werde ich wieder gefragt.

Ich gebe wieder die gleiche Antwort nur in etwas gereizteren Tonfall. Meine Begleitung fügt rasch hinzu: „这是欧洲人.“ Die Bedienung zieht ab, kommt aber gleich wieder mit meiner Suppe. Rasch ziehe ich den Teller zu mir und will nach dem Löffel greifen. Mein Magen knurrt. Der Geifer tritt mir fast aus den Mundecken, doch ich kann den verfickten Löffel nicht finden, sondern nur verdammte Essstäbchen.

In meinem Kopf manifestiert sich schon ein Bild – ich liege mit dem Gesicht vom Hunger zu Tode geschwächt leblos am Tisch; mein Gesicht in der Suppenschüssel – als mir einfällt, dass in manchen chinesischen Lokalen kein Löffel zur Suppe serviert wird, da es durchaus üblich ist, sie einfach zu schlürfen. Gierig führe ich die Schüssel an die Lippen, und leere sie fast vollständig. Alles, was dieser Notspülung entgangen ist, wird mit Essstäbchen aufgespießt und landet ebenfalls im Magen. Dieses Methode ist zwar nicht schicklich und erinnert an die Essgewohnheiten eines Kindes, aber momentan steht für mich nur die Befriedigung meines Hungers im Vordergrund. Zufrieden lehne ich mich zurück. Das erste meiner Probleme habe ich gelöst.

Zwar ist meine Situation nicht wirklich besser geworden, ich habe immer noch keine Ahnung, wo ich bin, auch war ich nicht wirklich vom Hungertod bedroht, doch wenigstens knurrt mein Magen nicht mehr. Ich lasse meine Gedanken schweifen, was dazu führt, dass ich mich merke, dass ich mich in den letzten sechzig Minuten wie ein Trottel aufgeführt habe, der eine nicht geringe Anzahl von chinesischen Verhaltensnormen mit Füßen getreten hat. Ich bin herumgesprungen wie ein Irrer, habe geschimpft, geflucht. Kein Wunder, dass mich meine Begleitung nicht ernst nimmt, denn ich habe mein Gesicht verloren. Die Tatsache, dass ich die Kellnerin rüde zurechtgewiesen habe, macht die Sache auch nicht besser.

Die Zeit ist gekommen. Ich werde abhauen, denn ich weiß weder ob ich meiner Begleitung wirklich trauen kann, noch ob folgende Aktionen meiner Wenigkeit wirklich zu Vorteil gereichen werden. Es ist besser ich ziehe einen Schlussstrich und schlage mich alleine durch dieses Chaos, denn auch wenn die Prostituierte auf meiner Suche nach einem Ausweg nicht störend ist, so wird sie mir sicherlich ins Hotel folgen und ich kann dann meiner Verlobten erklären, warum ein Freudenmädchen an meiner Backe klebt. Ich könnte es mit der Wahrheit versuchen, aber zu meinem Leidwesen ist die leider nicht sehr glaubwürdig.

Als der zweite Gang – etwas das Aussieht wie eine Kreuzung zwischen Affe und Fledermaus – aufgetischt wird, habe ich mich entschieden. Hastig krame ich 2000 Yuan hervor und stehe auf. Der Sessel kippt um. Ich blicke der Prostiuierten in die Augen, streiche kurz über ihre Wange und sage lakoonisch: "We'll always have Paris[25]". Dann nicke ich und nehme die Beine in die Hand.

Wenn man einen Anzug trägt, sieht das ganze noch einmal um 50 Prozent cooler aus.
Um nicht allzu schnell auf meiner Flucht gestoppt zu werden – immerhin habe ich 2000 Yuan (das sind in etwas 180 Euro) dafür gezahlt – nehme ich nicht den Hauptausgang, was eine Verfolgung viel zu einfach machen würde, sondern laufe schnurstracks in die Küche, wo mich die Kellner zwar verdutzt anstarren, aber wenigstens nicht mit den Messern bedrohen. Ein kurzer Blick nach hinten zeigt, dass ich nicht verfolgt werde, aber die Luft ist noch nicht rein. Sie könnten mir noch auf den Fersen sein.

Nach zwei weiteren Räumen und einem längeren Gang, erreiche ich ein kleines Zimmer, das leer ist und bis auf die Tür, durch die ich eingetreten bin, nur ein kleines Fenster als Fluchtweg aufweist. Verdammt ich bin in einer Sackgasse gelandet. Rasch überlege ich meine weitere Vorgehensweise und beschließe das Fenster einzuschlagen, da sich der Raum im Erdgeschoss befindet und somit ein Sturz kurz und schmerzlos wäre. Ich ziehe mein Sakko aus und folge meinem Plan. Nachdem ich das Fenster eingeschlagen habe, nehme ich Anlauf und quetsche mich durch das enge Loch. Ich bin schon mit Kopf und Hüfte durch und kurz davor die Phase des freien Falls zu erreichen, als mir auffällt, dass der Boden, doch nicht so nah ist, wie gedacht.

Doch noch bevor ich adäquat reagieren kann, falle ich schon und schlage kurze Zeit später schmerzhaft am Boden auf. Ich habe mir zwar nichts gebrochen, aber eine Schnittwunde am linken Unterarm zugezogen. Auch wenn sich diese nicht gerade verhält wie der Trevi-Brunnen in Rom, liege ich dennoch im Straßendreck, der sicherlich Heimat von Krankheiten wie Tetanus, Ebola oder Humaner Granulozytärer Anaplasmose ist. Langsam rapple ich mich auf und bemerke, dass ich mich in einem kleinen Innenhof befinde, dessen einziger Ausgang ein über zwei Meter hohes Tor ist, das offensichtlich abgeschlossen wurde. Vom Regen in die Traufe. Aus meinem Labyrinth wurde eine verdammte Gefängniszelle. Wenigstens regnet es nicht, aber ich muss hier trotzdem raus. Nach meinem schmerzhaften Abgang durch das Fenster, habe ich jedoch keine Lust mich durch eine weitere unfreiwillige Actioneinlage zu verletzen, die dazu dient das Tor zu überwinden.

Nahes Hundebellen bringt mich dazu meinen Entschluss zu überdenken und die Beine in die Hand zu nehmen. Während ich so auf das Tor zu laufe, fällt mir auf, dass ich keine Ahnung habe, wie ich drüber kommen solle. In meiner Verzweiflung springe ich einfach und knalle mit voller Wucht gegen das Gitter. Dieser Kollision mit dem Torflügel folgt eine nicht minder schmerzhafte Kollision mit dem Boden. Während ich am Boden liege – wie ein Toter, aller vier Gliedmaßen ausgestreckt – erinnere ich mich an einen Traceur, der die Wand nutzte, um dem Sprung mehr Höhe zu verleihen. Langsam rapple ich mich auf und laufe mit dem Mut der Verzweiflung auf das Tor zu. Kurz vor dem Gitter, springe ich leicht nach rechts, um mich aus dieser erhöhten Position von der Hauswand abzustoßen.

Da Herrenlackschuhe nicht die idealen Parkourschuhe sind, rutsche ich etwas ab und lande mit meinem Brustkorb an der Oberkante des Torflügels. Das werde ich sicherlich noch die nächsten Tage spüren. Geistesgegenwärtig reiße ich die Arme nach vorne, was zusammen mit dem Schwung des Sprunges dazu führt, dass ich langsam über das Tor kippe, um auf der anderen Seite unkontrolliert zu Boden zu fallen, sodass ich mich wieder unsanft auf dem dreckigen Asphalt liegend wiederfinde.

Langsam richte ich mich auf. Meine Knochen fühlen sich an, als wäre ich in den letzten fünf Minuten um dreißig Jahre gealtert. Mein ganzer Hüftbereich wird vermutlich in den nächsten Tagen so blau sein wie ein kasachischer Landarbeiter, den Frau und Kinder verlassen haben. Ich würde mich zwar am liebsten auf der Stelle wieder hinlegen und schlafen, aber der Alptraum ist noch nicht zu ende. Erschöpft klemme ich mir eine Zigarette zwischen die Lippen, nur um eine Minute später festzustellen, dass ich kein Feuerzeug bei mir trage. Heute ist wirklich nicht mein Tag. Mit einer nicht angezündeten Zigarette zwischen den Lippen gehe ich die Straße entlang und hoffe den Ausgang aus diesem Labyrinth zu finden.

Montezumas Rache auch in Peking

Ich bin irgendwo im Nirgendwo *schunkel*
Mein Rücken schmerzt. Meine Hüfte schmerzt. Mein Kopf schmerzt. Aber wenigstens ist nichts gebrochen, zumindest nichts wichtiges. Während ich den Gedanken über mögliche Verletzungen nachgehe, spüre ich etwas nasses auf meiner Wange. Ich schenke dem nicht allzu große Bedeutung, bis ich wieder etwas nasses spüre, diesmal auf meiner Nase. Als ich gerade darüber nachdenke, ob es beginnt zu regnen, spüre ich einen weiteren Tropfen. Und noch einen. Resignierend blicke ich nach oben und erkenne die dichte Wolkendecke, die über der Stadt, oder zumindest über meiner Wenigkeit liegt. Ja, schlagt nur zu, obwohl am Boden liege.

Gott, ja du, warum lässt du mich nicht das Opfer eines Blitzeinschlages werden. Warum bringst du es nicht gleich zu ende und streckst mich einfach nieder? Bei Onans Bruder Er hattest du auch keinen Grund. Er ging dir einfach nur auf den Sack. Der Regen wird stärker. Er erreicht zwar nicht die Ausmaße eines Tropengewitters, ist aber durch vergleichbar mit dem berüchtigten Salzburger Schürlregen. So werde ich langsam aber dennoch eingeweicht. Es reicht nicht, dass ich mir durch meine Schnittwunde am Arm Wundbrand hole. Nein, sollte ich das Überleben, werde ich an einer Lungenentzündung zu Grunde gehen. Wenigstens habe ich gegessen und bin nun die nächsten Stunden vor dem Hungertod gefeit.

Ich blicke auf die Uhr. Es ist 23 Uhr 04. Langsam gehen die Lichter aus. Die Menschen auf der Straße werden weniger. Auch bei mir meldet sich die Müdigkeit, aber wo soll ich schlafen? Ich kann mich ja schlecht zwischen zwei Mistkübeln bei strömenden Regen in irgendeiner Gosse zur Ruhe begeben. Nicht, wenn ich an meinem Leben hänge. So bleibt mir nichts anderes als zu gehen. Plötzlich meldet sich mein Magen zu Wort. Verdutzt bleibe ich stehen. Wieder spüre ich, dass mein Magen rebelliert. Er grummelt und rumort. Panik zeichnet sich auf meinem Gesicht ab. Die Pupillen weiten sich. Die Haare stellen sich mir auf. Das kann ich nicht mehr Zufall sein. Es ist vielleicht Pech, wenn ich von einem bescheuerten Taxifahrer in den Slums von Peking abgeliefert werde. Es ist meine Schuld, wenn ich nicht ausreichend chinesisch – eigentlich habe ich kein einziges Wort gelernt – kann, aber, dass sich jetzt ein Brechdurchfall anbahnt, ist ein schlechter Scherz.

Das kann nicht mehr Zufall sein. Da hat mich eine höhere Macht am Kicker. Montezumas Rache und das in China. Nach einer kurzen Schockstarre nehme ich die Beine in die Hand, denn es eilt. Wer weiß schon, wann der Darminhalt versucht auszubrechen? Was als langsames, nicht enden wollendes Martyrium begonnen hat, bekommt jetzt eine unangenehm dynamische Komponente. Um am Hunger zu Grunde zu gehen, brauche ich mehrere Tage. Für eine volle Hose braucht es nicht einmal eine Minute. Ich laufe durch die Straßen. Unzählige Schilder ziehen an meinen Augen vorbei. Schilder, die ich nicht lesen kann, weisen den Weg zu Orten, die ich nicht kenne.

Die Zeit läuft. Der Schweiß steht mir auf der Stirn. Meine Müdigkeit ist wie weg geblasen. Mein Blick hetzt über die Häuserfassaden. Doch nirgendwo kann ich eine Apotheke sehen, oder vielleicht bin ich schon an zwanzig Apotheken vorbeigelaufen und habe es einfach nicht bemerkt, weil ich die beschissenen Schriftzeichen nicht lesen kann. Plötzlich erkenne ich in einer Seitengasse einen Äskulapstab, der auf ein Nasenschild aufgezeichnet ist. Beim Teutates, das könnte eine Apotheke sein. Ohne Zeit durch unwichtiges Denken oder Abschätzen zu verlieren, stürme ich auf den Eingang zu und ignoriere den älteren Herren, der zu mir sagt: „药店被关闭“

Alter Mann:药店被关闭
Ich: Leck mich. Ich habe Durchfall
Da mir ziemlich am Arsch vorbeigeht, was er mir mitteilen wollte, hetzte ich zur Theke und gebe meiner ganzen Verzweiflung Ausdruck: „Diarrhoea![26]“ „他们说什么?“ entgegnet die junge Dame an der Theke freundlich. Ich schenke der Antwort keine Beachtung und erkläre nochmals: „You know, case of trots[27]“ „我不明白你的语言“ erwidert die junge Dame und diesmal ignoriere ich ihre Worte nicht. Ich spüre wie meine Gesichtszüge langsam entgleiten. Langsam fahre ich mit der linken Hand durch mein Kopfhaar. Danach schlage ich zweimal mit meinem Kopf gegen die Holzplatte des Tresens und winsle: „Nein, das kann nichts sein.“

Da finde ich eine Apotheke und dann sprechen die Angestellten kein Englisch. Das ist nicht nur unangenehm, sondern grausam. Was habe ich getan? Was habe ich getan, dass ich so gestraft werde? Ob meiner Enttäuschung vergesse ich sogar kurz, dass mir die Apothekerin bei meiner kurzen Entgleisung zu sieht. Langsam richte ich wieder auf, ziehe mein Sakko aus und entblöße die Schnittwunde. Sie hat zwar aufgehört zu bluten, sieht deswegen aber nicht wirklich besser aus, sondern erinnert vielmehr an eine Kriegsverletzung. Die Apothekerin verschwindet und ich hoffe inständig, dass sie mit einem Pflaster, einem Desinfektionsmittel oder von mir aus mit Nadel und Faden kommt. Hauptsache sie verschwindet nicht, um mich der Polizei zu melden oder einen chinesischen Schlägertrupp auf mich anzusetzen.

Ich warte zwar einige Minuten – Minuten, die mein Magen zum Rebellieren nutzt – aber sie kommt wirklich zurück. Zum ersten Mal seit ich mit meiner Verlobten gesprochen, passiert mir etwas gutes. Zugeben, ich habe mich auch über das Essen gefreut, aber das hat mir letztendlich Magenbeschwerden beschert. Die Apothekerin träufelt etwas, das so aussieht wie eine Jodtinktur, auf meine Wunde. Das brennt zwar wie Chili in den Augen, aber diese Schmerzen sind immer noch besser als Wundbrand. Danach wird ein Pflaster drauf geklebt. Ermutigt durch diesen Erfolg, den man in Anbetracht meiner Situation schon fast als überwältigend beschreiben könnte, versuche ich auch mein größeres Leiden – nämlich den bevorstehenden Brechdurchfall – ausreichend zu beschreiben. Doch wie macht man das? Ich kann wohl schwerlich meine Hose ausziehen und einen Stuhlgang imitieren. Abgesehen vom Verlust der Würde könnte es falsche Signale aussenden, wenn ich meinen Penis der gutaussehenden Apothekerin zeige.

Was nehmen? Was verschmähen? Nachdem Konsum sterben oder nicht sterben. Das ist hier die Frage
Daher beschränke ich mich darauf mit der rechten Hand über meinen Bauch zu streicheln und mit der linken Hand auf meinen Anus zu zeigen. Dieser Anblick, der schon lächerlich genug ist, zeigt sogar Erfolg. Die nette Dame, die mich bedient, lächelt betreten und verschwindet, um kurze Zeit später mit einer kleinen Flasche wiederzukommen. Das Lächeln, das sich über meiner unteren Gesichtshälfte ausgebreitet hatte, stirbt wieder, als ich einen erigierten Penis auf der Verpackung sehe. Bei den unbekannten Pillen handelt es sich also nicht um die rettende Medizin, sondern um verdammte Potenzmittel. Ich vergrabe das Gesicht in meinen Händen. Es hat keinen Sinn. Das Schicksal hasst mich. Ich krame schon nach Geld, als mir auffällt, dass ein zweites Fläschchen am Tresen steht. Bild ist keines zu erkennen, sodass ich nur mutmaßen kann, wogegen diese Medizin helfen soll. Da ich heute schon gegen Tore gelaufen bin, aus Fenstern sprang und vor Prostituierten floh, kann meine Situation nicht wirklich schlimmer werden.

Ich köpfe das Fläschchen mit einem Schlag gegen die Kante des Tresens und trinke etwas ein Viertel des Inhalts. Dann stelle ich den Behälter zurück, lege 500 Yuan am Tisch und zum Abschied fasse ich an die Krempe meines nicht existenten Hutes. Die Apothekerin und der Typ am Tor nehmen das schweigend zur Kenntnis. Der Anblick eines elegant gekleideten Europäers, der mitten in der Nacht panisch eine Apotheke betritt, dann einfach eine Arznei durch Nutzung des Tresens öffnet und schluckt als wäre sie Mineralwasser oder ähnliches, ist in den Slums von Peking nicht alltäglich. Wenn man ehrlich ist, sieht man so etwas auch in Wien oder Zell am See nicht alle Tage. Ich kralle mir eine der Streichholzschachteln, die in einer Schale beim Ausgang liegen, und trete hinaus auf die Straße. Als ich eine Zigarette zwischen meine Lippen geklemmt und angezündet habe, setze ich meine Reise fort.

Der unglaubliche Hulk

Nachdem ich einige Zeit durch dieses verdammte Labyrinth gegangen bin, ohne meinem Ziel wirklich näher – wobei ich eigentlich keine Ahnung habe, ob die Rettung vor der Tür steht oder nicht – zu kommen, bemerke ich, dass sich zwei Dinge entschieden verändert haben. Erstens, mein Magen hat aufgehört zu rebellieren. Der Aufstand wurde niedergeschlagen. Die Tore sind dicht. Zumindest die Stelle meines Körpers bleibt trocken.

Man sieht keine Menschen auf der Straße. Die Restaurants sind geschlossen. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Zweitens, ich bin verdammt müde. Es ist zwar schon Mitternacht und ich bin seit 17 Stunden auf den Beinen, aber ich fühle mich, als wäre ich die letzten zwei Tage ohne Unterbrechung durch die Slums von Peking gegangen. Noch dazu schmerzt meine Hüfte und auch mein Brustbein pocht spürbar. Wenigstens hat der Regen nachgelassen. Zwar fallen immer noch Tropfen, aber die Menge ist spürbar geringer geworden.

Ich blicke auf die Uhr. Es ist null Uhr zwölf. Es sind kaum noch Menschen auf der Straße. Alle Geschäfte, an denen ich vorbeigehe sind geschlossen. Selbst die Restaurants sind leer. Ich bin ein einsamer Wanderer auf der Suche nach Rettung. Vereinzelt brennt in den Häusern, an denen ich vorbeigehe, Licht. Immer wieder sehe ich die Schatten der Menschen, die in ihren gemütlichen Wohnungen und Häusern sitzen. Wenigstens habe ich immer noch meine Zigaretten. Die Müdigkeit wird stärker.

Ich schiele schon in die Seitengassen, an denen ich vorbeigehe, und hoffe, dass ich irgendwo ein geschütztes und trockenes Plätzchen finde, wo ich mich hinlegen kann. Das muss an dieser verdammten Medizin liegen. Vermutlich nimmt man einen Teelöffel davon und trinkt nicht ein Viertel des Inhalts. Kein Wunder, dass mich die Apothekerin angesehen hat, als wäre ich ein venezolanisches Walross. Plötzlich stehe ich vor einer Mauer. Die Gasse, die ich entlang ging, ist anscheinend eine Sackgasse. Noch dazu eine düstere. Fast schon unwillkürlich suche ich nach einer Nische, wo ich mich hinlegen könnte.

Da ich keine finde, will ich umkehren und bei der ersten Möglichkeit links abbiegen, als zwei düstere Gestalten sich mir in den Weg stellen. Der eine ist in etwas so groß wie ich trägt eine grüne Regenjacke und darunter ein weißes T-Shirt. Der andere ist circa zwanzig Zentimeter kleiner als ich, hat eine Glatze und ein schwarzer Ledermantel schützt ihn gegen den Regen.

Kinderfreundliche Darstellung der Ereignisse
Der Winzling sagt zu mir : „你的钱给我们,否则我们将打破你的牙齿出来,他妈的你的屁股。“ „Leckt mich doch einfach am Arsch, ihr Zipfelklatscher,“ entgegne ich entnervt und will an den beiden Komikern vorbeigehen. Während ich mich in Bewegung setze, fällt mir ein, dass sie mich vermutlich nicht verstanden haben und ich bei der nächsten Gelegenheit Englisch sprechen sollte. Ach verdammt, meine Gedanken sind zäh wie Honigpaste. Als ich an den Gestalten vorbeigehen will, packt mich der große am Handgelenk und erklärt mir im harschen Tonfall:

„你的钱给我们,或者您可以拿起您离开地面他妈的牙齿。“ „Fuck you![28]“ entgegnete ich lakonisch und während ich weiter gehe, kommt mir in den Sinn, dass diese Typen mich vielleicht überfallen wollen. Doch noch bevor ich die Beine in die Hand nehmen und verschwinden kann, spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Das reicht. Ich drehe mich um und schlage zu. Der Wichser weicht einige Schritte zurück, hält sich die Nase und schreit:

„妈的,他打我!“ Ich hätte nie gedacht, dass ich mir der Boxunterricht, zu dem mich mein Vater über fünf Jahre lang gezwungen hat, jemals von Nutzen sein wird. Sollte ich das überleben, muss ich ihm davon erzählen. Ich spucke zu Boden und erkläre den beiden Prügelknaben: „Death is at the bottom of everything! Leave death to the professionals. Believe me, I am the unbelievable hulk.[29]

Diese zugegeben etwas sinnlose, aber dafür immens coole Textzeile hat keine besondere Wirkungen auf die dubiosen Gestalten, die jetzt langsam auf mich zu gehen. Die geballten Fäuste verheißen nichts Gutes. Aber zum Weglaufen ist es zu spät. In meinem Zustand wäre ich vermutlich sowie so nicht weit gekommen. Der Winzling läuft auf mich zu. Ich weiche galant mit einem Ausfallschritt aus und erwische meinen Gegner im Bereich des linken Auges. Dieser taumelt und stürzt. Der Große stürmt in meine Richtung.

Ich ducke mich, sodass ich seinem Schlag ausweichen kann, und verpasse ihm eine in den Magen. Als ich wieder meine Kampfposition einnehmen möchte, verschätze ich mich jedoch und stürze. Zwar kann ich einem Tritt ausweichen, auch gelingt es mir den Typen mit der Regenjacke von den Füßen zu holen, doch als ich aufstehe, spüre ich einen stechenden Schmerz im Bereich der linken Schläfe. Ich taumle zurück, dann erwischt mich die linke Faust des Lederjackenwinzlings im Bereich der Nieren. Die rechte schlägt in der Nähe des Sona Plexus ein. Es wird dunkel vor meinen Augen. Das letzte, das ich sehe, ist eine Faust, die sich rasant meinem linken Auge nähert. Dann wird alles schwarz und ich sacke zusammen.

So weit die Füße tragen

Jeder muss manchmal seinen eigenen Weg gehen. Meiner führt durch Peking
Mein Kopf tut weh. Meine Hüfte schmerzt. Mein Brustbein pocht. Meine Niere jammert. Mein Knie klagt. Langsam öffne ich die Augen – wobei das nur beim rechten gut funktioniert. Das linke ist angeschwollen – und bemerke, dass es hell ist. Ein Blick auf meine Uhr zeigt mir, dass diese gestohlen wurde. Auch mein Sakko ist nicht da. Ich richte mich langsam auf. Es dreht sich zwar alles, aber ich schaffe es einen Fuß vor den anderen zu setzen. Nach einigen Augenblicken, die ich angelehnt an der Wand verbrachte, durchsuche ich die Taschen meiner Hose.

Bis auf die Adresse des Hotels und ein paar Yuan hat man alles genommen. Wenigstens hatte ich Reisepass und Mobiltelefon nicht bei mir. Am Ende der Sackgasse finde ich sogar mein Sakko wieder, dass aber auch geplündert wurde. Die dreihundert Euro, die ich bei mir trug haben den Besitzer gewechselt. Ich häng das Sakko lässig über die Schulter und beginne „Always look on the bright side of life“ zu pfeifen. Dann setze ich meine Reise fort.

Ich weiß nicht wie spät es ist, aber das ist mir auch egal. Dass mein Magen knurrt, geht mir auch am Arsch vorbei. Die Zeit zieht vorüber, genauso wie die Häuserfassaden. Ich gehe. Ich schreite. Ich marschiere. Ich trotte. Ich schlendere. Ich eile. Ich latsche. Ich flaniere. Ob ich dem Ziel näher komme, oder daran vorbei wandere. Ich weiß es nicht, aber die Verzweiflung gibt meinen Füßen Kraft und plötzlich – nach einer Ewigkeit – stehe am Rand einer vielbefahrenen Straße und vor mir steht ein Taxi.

Ich laufe auf das Fahrzeug zu, steige ein und reiche dem Taxifahrer die Adresse des Hotels. Ich spüre wie die Anspannung der letzten Stunden von mir abfällt. Ich bin den Tränen nahe. „Nice Hotel,[30]“ erklärt der Taxifahrer. Die Stimme kommt mir bekannt vor. Meine Nackenhaare stellen sich auf. Warum bloß, werde ich so gestraft? Er blickt in den Rückenspiegel und verkündet fröhlich: „I know you Mister and I know that you know me. You like me.[31]“ „If I gave you any thought I sure wouldn’t[32]” erkläre ich zerknirscht und zünde mir eine Zigarette an. Der Taxifahrer spricht ungeachtet meiner ruppigen Antwort weiter: „Enjoyed last night? Oh, I see, you enjoyed last night. I think this is the beginning of a beautiful friendship[33]” „Shut up. Just shut the fuck up,[34]” erkläre ich gereizt und blicke aus dem Fenster. Eigentlich würde ich diesem Arschloch gerne den Schädel spalten, aber er ist nun mal meine Fahrkarte raus aus dem Labyrinth. Noctes pechini odi[35].

Übersetzungen

  1. Ich spreche deine Sprache nicht (Mayathan)
  2. Schönes Hotel
  3. Der Ansicht bin ich auch
  4. Gefällt Ihnen Peking?
  5. Ja, es ist groß und irgendwie interessant
  6. Schätzen Sie die körperlichen und geistigen Vorzüge der weiblichen Bevölkerung der Volksrepublik China?
  7. Wer schätzt sie nicht. Ich zumindest liebe die körperlichen und geistigen Vorzüge der weiblichen Bevölkerung der Volksrepublik China
  8. Wo bin ich? Gut, es interessiert mich nicht, solange ich mich in der Nähe meiner Unterkunft befinde, aber das ist nicht der Fall. Daher möchte ich verfickt nochmal wissen, wo bin ich.
  9. Ein Moment, der Herr. Nun einen Moment. Ich muss das Gebäude betreten. Nur einen Moment
  10. 2000 für eine Nacht
  11. Wie bitte?
  12. Ich verstehe. 1500 für eine Nacht
  13. ähhh, yeah, ähhh,
  14. Einverstanden, mein Herr
  15. Bleib stehen, du Wichser
  16. Einverstanden, 1200 für eine Nacht
  17. Wie komme ich hier wieder raus?
  18. Für einen gutaussehnden Kerl wie dich mache ich einen Spezialpreis.
  19. Einverstanden, ich zahle, aber wie komme ich hier wieder raus?
  20. Der Preis von 1200 pro Nacht beinhaltet Fellatio, Herbeiführung des männlichen Orgasmus per Hand, Mammalverkehr und Photos. Für Analverkehr oder Fesselspiele muss ein extra Betrag gezahlt werden. Filmen ist verboten. Urophile Praktiken werden nicht angeboten.
  21. Wo bin ich?
  22. Ich würde es bevorzugen den Geschlechtsakt nicht in der Öffentlichkeit, sondern im Hotel zu vollziehen.
  23. Ich bekenne, dass ich mir selbst Leid zugefügt habe, durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine äußerst große Schuld. (Latein)
  24. Ich spreche kein chinesisch
  25. Schau mir in die Augen, Kleines. Uns bleibt immer noch Paris
  26. Durchfall
  27. Gute Dame, mir ist nicht nach Scherzen. Ich bin ein Opfer von Montezumas Rache geworden.
  28. Fick dich!
  29. Der Tod lauert hinter jeder Ecke. Überlasst ihn den Profis. Glaubt mir, ich bin der unglaubliche Hulk
  30. Nettes Hotel
  31. Ich kenne Sie und weiß, dass Sie mich kennen. Sie mögen mich.
  32. Wenn ich einen Gedanken an Sie verschwenden würde, sicherlich nicht.
  33. Haben Sie die letzten Nacht genossen? Ich sehe, Sie haben die letzte Nacht genossen. Ich glaube, dass ist der Beginn einer wundervollen Freundschaft.
  34. Halt dein Maul. Halte einfach dein verficktes Maul.
  35. Ich hasse die Nächte Pekings. (Latein)
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Dieser Artikel aus den Namensräumen „Diverses“ oder auch „Spiegelwelten“ besitzt aufgrund seiner Qualität die Urkunde „Schatzkistentauglich“ und wird daher im Portal Rumpelkiste gelistet.
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